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Szenenfoto aus "Die Milchfrau" von makemake produktionen im Theater Kosmos Wien

Lustvolles, spielfreudiges Spektakel mit Schüttaktionen und Tiefgang

Ein fulminantes, sinnliches, körperbetontes, oft scheinbar an Belastungsgrenzen gehendes und doch den Beteiligten offenbar viel Spaß bereitendes, mitreißendes Spektakel auf, in und rund um eine Drehbühne ist „Die Milchfrau“ im Wiener Kosmos Theater. Diese Inszenierung von makemake produktionen übersetzt den Roman „Milchfrau in Ottakring“ von Alexandra Galina Djuragina unter ihrem Künstlerinnen-Namen Alja Rachmanowa in das eingangs auf den Punkt gebrachte musikalisch-rhythmische tänzerische Schauspiel.

In den 1 ¼ Stunden fließen rund 2000 Liter Wasser in den inneren Kreis der Drehbühne bzw. werden sie vor allem auf- und übereinander geschüttet – aus fast zwei Dutzend alten Milchkannen. In etlichen Kannen ist das Wasser mit Lebensmittelfarbe, einmal auch mit Uranin gefärbt, was im Wannenrund zu wunderbaren Farb-vermischungs-Spielen führt. Und wenn gegen Ende noch Trockeneis reingeschüttet wird, entsteht fantastischer Bodennebel. Und dabei den ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen der Autorin eine umfassende, tiefgehende fast mythologische Dimension hinzufügen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Milchfrau“ von makemake produktionen im Theater Kosmos Wien

Tagebuchroman

Mag jetzt zunächst alles überschwänglich einerseits und irgendwie kryptisch andererseits klingen/sich lesen. Also vielleicht doch ein längerer Exkurs zum Ausgangspunkt von Stück bzw. noch mehr des Romans:

Die Autorin, im russischen Kasli geboren (1898), studierte Philosophie, Psychologie und Literatur, flüchtet mit ihrer Familie zwei Jahre nach der Oktoberrevolution (1917) nach Sibirien, wo sie den aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Österreicher Arnuf (von) Hoyer heiratet (1921). Ein Jahr später wird ihr Sohn Jurka (Alexander) geboren. 1925 wird die Familie als Klassenfeinde aus der Sowjetunion ausgewiesen. Sie landen in Österreich, wo ihrer beider Studienabschlüsse nicht anerkannt werden. In Wien-Währing (Hildebrandgasse 16/ Ecke Schumanngasse) erwerben sie mit Geld eines Freundes des Ehemannes ein Milchgeschäft samt kleinem, finsterem Wohnzimmer.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Milchfrau“ von makemake produktionen im Theater Kosmos Wien

„Djuragina, nunmehrige Hoyer, hatte zuvor schon in Russland ein Jugendtagebuch („Geheimnisse um Tataren und Götzen“) veröffentlicht. Später erschienen die russischen Tagebücher „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod“ sowie „Ehen im roten Sturm“. Auch über ihre Wiener Zeit verfasste sie Tagebücher – auf Russisch, die ihr Ehemann auf Deutsch übersetzte. In diesen nennt sie sich Frau Wagner, ihren Mann Otmar und verlegt das Geschäft nach Ottakring. Dieser dritte Band der Tagebücher wird sogar in 21 Sprachen übersetzt und bis 1938 weit mehr als eine halbe Million verkauft – samt höchst erfolgreicher Lesereisen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Milchfrau“ von makemake produktionen im Theater Kosmos Wien

In der zweiten Hälfte des Jahres 1927 übersiedelt die Familie nach Salzburg wo Arnulf Hoyer eine Stelle als Lehrer bekommt und sie später als Kinderpsychologin arbeitet. Die tiefreligiöse Frau fällt einerseits bei den Nazis in Ungnade, andererseits verteilen sie die ins Russische rückübersetzten Werke der Autorin als antibolschewistische Propaganda an die russische Bevölkerung entlang der Kriegsfront. Knapp vor Kriegsende, am 1. April 1945 stirbt ihr Sohn im Raum Wiener Neustadt auf Seiten der Wehrmacht und die Hoyers flüchten – aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee der Sowjetunion – in die Schweiz.“ (Transparenz-Hinweis: Diese beiden Absätze „plagiiere“ ich von meinem Beitrag über eine herkömmliche Sprechtheater-Inszenierung der „Milchfrau“ im Theater Forum Schwechat im März 2019 – Link am Ende des Beitrages.

makemake

Die Inszenierung im Wiener Kosmos Theater – eine Wiederaufnahme wegen riesigen Erfolgs – in der Regie von Sara Ostertag zitiert zwar auch aus zentralen Tagebuchaufzeichnungen, die den schwierigen (Über-)Lebenskampf der Neu-Zugewanderten sowie Schlaglichter auf das Leben so manch anderer in der Vorstadt werfen, aber liefert weit mehr. Abgesehen von dem schon eingangs angedeuteten, bewegten und bewegenden Schauspiel, das immer wieder auch fast gemäldeartige kurzzeitige Standbilder oder Brunnenskulpturen zeigt, dreht sich alles um Milch (nein, es wird nicht wirklich mit Milch geschüttet). Milch als Verbindung zwischen Mutter und Kind(ern). Das große Rund in der Mitte der Drehbühne (Nanna  Neudeck), in dem sich (fast) alles abspielt, aus dem alles entsteht… – vielleicht nicht zuletzt eine Verbindung zum Namen der Gruppe: makemake nach der Fruchtbarkeits- und Schöpfungsgottheit der Mythologie der Osterinsel (Südpazifik, geographisch zu Polynesien, politisch zu Chile gehörend) – nach der übrigens auch ein Zwergplanet der Plutoiden benannt wurde.

Schauspiel und Live-Musik und Gesang

Neben Michèle Rohrbach (Milchfrau), Martin Hemmer (Kind Jurka) und Benedikt Steiner (Ehemann der Milchfrau) demonstrieren Barča Baxant, Felix Rank, Mave Venturin, Jeanne Werner und Verena Giesinger wahre Spielfreude in den verschiedensten Rollen von Kund:innen im Milchgeschäft. Die zuletzt genannte Giesinger fungiert auch als Chorleiterin und löst manches Mal den neben der Drehbühne agierenden Live-Musiker Paul Plut (Akkordeon, Piano, Harmonium) ab und setzt sich ans Piano. Immer wieder ertönen Sologesänge, teils fast wie Show-Auftritte.

Im Milchgeschäft treten die unterschiedlichsten Charakterzüge der Kund:innen zu Tage – von Neid, Missgunst, Vernaderung, Betrug, Fremdenfeindlichkeit bis zur Fürsorge, Hilfsbereitschaft usw. Und mit der Schilderung der Erlebnisberichte bzw. Gerüchte rund um den Justizpalast (15. Juli 1927) dringt auch die allgemeine politische Lage in die Tagebuchaufzeichnungen ein. Wenige später stammen die weiteren Aufzeichnungen aus Salzburg wohin die Familie zieht (siehe weiter oben).

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übers-lebm-von-de-oamen-leit -> Stückbesprechung der Schwechater Version, damals noch im KiKu

Ausschnitte aus den Titelseiten der beiden Bücher von und über Alja Rachmanowas Tagebuchroman "Milchfrau in Ottakring"

Weit mehr als eine Gemischtwarenhändlerin

„Übers Lebm von de oamen Leit“ hab ich vor viereinhalb Jahren die Stückbesprechung „Das Milchgeschäft in Ottakring“ betitelt. Das Theater Forum Schwechat hatte damals den in Vergessenheit geratenen Erfolgs-Tagebuchroman (in der ersten Republik) von Alja Rachmanowa ausgegraben und inszeniert (Regie und Buch: Marius Schiener, gespielt von Manuela Seidl und Johannes Kemetter – mit Live-Klavierbegleitung von Gabor Rivo). Für die Erarbeitung des Stückes hatte das Team auch Ilse Stahrs Biographie über Rachmanowa herangezogen.

Hier nun eine kurze Besprechung der beiden Bücher. Zunächst natürlich das Original „Milchfrau in Ottakring“. Von ihrem Ehemann Arnulf Hoyer vom Russischen ins Deutsche übersetzt, liefert die Autorin Alexandra Galina Djuragina (Alja Rachmanowa war ihr Künstlerinnen-Name) detaillierte Einblicke in das Leben in der Vorstadt – übrigens in Währing (Ecke Schumanngasse/ Hildebrandgasse). Von den Anfeindungen als Ausländerin bittere Armut, Betrügereien, (offene) Geheimnisse von Kund:innen bis zu tiefem Heimweh. Sie wurde in Russland geboren wo sie unter anderem ein Literaturstudium absolvierte. Dort lernte sie ihren aus der Gefangenschaft im ersten Weltkrieg entlassenen österreichischen Ehemann kennen, die beiden bekamen ein Kind – Jurka. Die junge Familie wurde – sie aus einigermaßen wohlhabender Familie, er aus kleinadeligen Verhältnissen – Mitte der 20er Jahre aus der damaligen Sowjetunion ausgewiesen.

Gedenktafel für Alexandra von Hoyer alias Alja Rachmanowa
Gedenktafel für Alexandra von Hoyer alias Alja Rachmanowa

Das Pendeln zwischen tristem, mühsamem Alltag einerseits und nachts vielen Träumen an die Vergangenheit in Russland spielt in vielen der Tagebucheinträge eine große Rolle. Bei letzteren finden sich sowohl solche über die Angst vor der Verfolgung ebenso wie jene der Sehnsucht nach der Natur ihrer Heimat einer- und vor allem der russischen (Schrift-)Kultur andererseits.

Biographie

Ilse Stahr schrieb „Das Geheimnis der Milchfrau in Ottakring – Alja Rachmanowa. Ein Leben“. Diese Biographie erschien 2012. Im Vorwort erzählt die Autorin, dass sie in ihrer Zeit im Realgymnasium in Bregenz (Vorarlberg) von einer Tante zunächst den ersten Band er Tagebücher Rachmanowas bekommen hat, später die anderen las und darüber immer Referate hielt.

Später nahm sie Kontakt mit der – in der Zwischenzeit in der Schweiz lebenden – Autorin – und hat briefliche Antwort bekommen. Als Stahr die Todesmeldung in der Zeitung las (1991) begab sie sich auf Spurensuche, fuhr nach Ettenhausen (Kanton Thurgau), traf Maria Sprenger, die Nachbarin der Verstorbenen. 40 Jahre lang kannte Sprenger die Autorin, wurde zuletzt auch deren Pflegerin. Rachmanowas Nachlass war schon in der Kantonsbibliothek, Stahr bekam aber „eine große Kiste „Salzburger-Briefe“, Dias, Fotos, Zeitungsausschnitte und vieles mehr“.

Daraus und aus vielen Gesprächen mit Zeitgenoss:innen Rachmanowas verfasste Ilse Stahr den „Lebenslauf einer Romanheldin“. Auf den ca. 230 Seiten finden sich auch mehr als vier Dutzend Fotos, Privataufnahmen von Alexandra Galina Djuragina/Hoyer. Und zitierte immer wieder auch literarische und andere Vorbilder, u.a.: „Als Leitmotiv für ihr Studententagebuch wählt Alja Rachmanowa eine Aufforderung des russischen Märtyrers Awwakum aus dem siebzehnten Jahrhundert: »Du magst ohne Furcht sprechen, wenn Du Dich nur durch Dein Gewissen leiten lässt!«“

Am Ende des Buches fügte Ilse Stahr eine knappe übersichtliche Zeittafel ebenso an wie ein Liste der Werke Alja Rachmanowas, Sekundärliteratur, ein Begriffs-erklärungs-Glossar, Pressestimmen sowie ein Personenregister samt Seitenangaben in der Biographie an, womit sie einen wunderbaren Über- und so manche Einblicke in das Leben und die literarische Arbeit von Alexandra Galina Djuragina/Hoyer liefert.

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Schwechater Stückbesprechung – noch im KiKU