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Bildmontage aus Fotos von der Lesung von Sabrina Myriam Mohamed mit einem kleinen Foto der Lesung von Sina Kiyani sowie den Büchern der beiden

Von Gemeindebau-Kids und einer Liebesgeschichte unter gefährlichen Bedingungen

Der Veranstaltungssaal des Literaturhauses Wien im Untergeschoß mit Eingang Zieglergasse /Ecke Seidengasse drohte fast überzugehen. Flugs stellten Mitarbeiter:innen zwsichen Ausstellungstafeln und -objekten Dutzende Sessel auf, eine Leinwand wurde ausgefahren und das Geschehen von der Bühne hierher per Kamera übertragen. Auf dem Programm stand die Präsentation zweier druckfrischer Bücher.

Sabrina Myriam Mohamed liest aus ihrem (ersten) Jugendroman im Wiener Literaturhaus
Sabrina Myriam Mohamed liest aus ihrem eben veröffentlichten Jugendroman

Sabrina Myriam Mohamed las aus ihrem (bisher ersten) Jugendroman „komm runter!“. Knapp zehn Monate vorher hatte sie für ein Kapitel daraus einen der Literaturpreise der edition exil bekommen. Nun ist daraus ein 180-seitiger locker, unterhaltsam – und im letzten Drittel auch sehr ernster Roman rund um fünf Jugendliche aus einem Wiener Gemeindebau geworden. Sprachlich vielfältig mit Wörtern und Sätzen von (Ur-)Wienerisch über Englisch bis Arabisch und Romanes sind so nebenbei eingebaut.

Zu einer Buchbesprechung sowie einem Interview mit der jungen Autorin geht es in eigenen Links – hier unten bzw. am Ende dieses Beitrages.

Mindestens zehn Mal neu geschrieben

Als Sina Kiyani an seinem an diesem Abend präsentierten Roman „paradiesstraße“ zu schreiben begonnen hat, war seine Kollegin noch in der Schule. „Eeeendlich“, freute sich die Verlagsleiterin Christa Stippinger, „ist dieses Buch erschienen“ und hielt es hoch. „Zehn Jahre lang hab ich daran gearbeitet und mindestens genauso oft fast alles verschmissen und neu begonnen“, verrät Sina Kiyani nach der Präsentation Kinder I Jugend I Kultur I und mehr… Die Grundstory, eine Liebesgeschichte zweier Männer im Iran – wo auf Homosexualität die Todesstrafe steht – blieb immer gleich. „Aber die Perspektiven, und viele Einzelheiten hab ich immer wieder neu geschreiben. Aber ich habe ja dazwischen auch anderes veröffentlicht.“

Chansons

Für das künstlerische Rahmenprogramm sorgten dieses Mal die Schauspielerin und Sängerin Lucy McEvil – am Klavier begleitet von Martin Kratochwil. In ihrer eleganten Art sang sie diverse berührende, aber auch frech-witzige Chansons und musste mehr als eine Zugabe singen.

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Szenenfoto aus "Die Namenlosen" der Performancegruppe "Nesterval"

Fast hautnah am Geschehen tödlicher Ausgrenzung

Zwei Männer treffen einander, offenbar heimlich im Dunkeln. Schauen sich ängstlich um, fühlen sich verfolgt, laufen davon. Ein erster Eindruck aus der Wanderung durch einen der Gänge zwischen von schwarzen Stoffen abgehängten Szenen-Orten in einer großen Halle des ehemaligen Nordwestbahnhofs (Zugang über brut, Wien-Brigittenau, 1200). Ein Eindruck, den nicht alle Zuschauer:innen haben. Denn jede und jeder muss sich entscheiden, welchen Weg sie/er einschlägt: Welchen Protagonist:innen folgen? Bei dieser/diesem bleiben oder zu anderen wechseln.

Eigene Wege finden

Mehr als 160 verschiedene Szenen, 300 Seiten – das könnte keine Zuschauerin/kein Zuschauer bewältigen. Und es würde logistisch gar nicht möglich sein, weil viele Szenen zeitgleich spielten. So erlebt nach einem kurzen gemeinsamen Intro in der „Kantine der Porzellanfabrik Nesterval“ nicht jede und jeder im Verlauf des rund dreistündigen Geschehens im Wander-Stationenstück „Die Namenlosen“ dasselbe, jedenfalls kann niemand alles erfahren. Dafür aber bist du – mit einer Handvoll anderer – sehr nah am Geschehen, oft in engen Räumen fast hautnah dran, tauchst in privateste Situationen ein.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Jede und jeder muss aber nicht bei der zuerst gewählten Figur bleiben. Wechseln in ein anderes Ambiente, einen anderen Erzählstrang mit anderen handelnden Personen ist jederzeit möglich. Sorgt zwar vielleicht für kurzfristiges Grübeln – bei wem und welcher Handlung bin ich da jetzt gerade. Aber auch möglich. Vielleicht, nein wahrscheinlich nicht ganz so intensiv wie beim Dranbleiben an einem Strang…

Wahre Hintergründe

Spätestens seit Nennung des Kantinen-Namens im vorigen Absatz ist klar, es handelt sich um eine, die jüngste, Produktion der Performance-Gruppe Nesterval rund um Teresa Löfberg (Buch) und Martin Finnland (künstlerische Leitung, Regie und Schauspiel – in der Rolle des Fotografen F.). Für „Die Namenlosen“ haben vor allem die beiden sowie Gisa Fellerer und Lorenz Tröbinger als Co-Autor:innen mit Andreas Brunner von qwien.at inhaltlich und dokumentarisch zusammengearbeitet. Letzterer hat u.a. mehr als 60 Biografien von Männern, Frauen und Personen, die heute als Trans* oder intergeschlechtlich gelesen werden können, und die in der Nazi-Zeit wegen homosexueller Handlungen verfolgt wurden, recherchiert und als Buch veröffentlicht (siehe Info-Box am Ende des Beitrages).

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Puzzles aus echten Lebensgeschichten

So manche dieser Lebensgeschichten dieser echten Menschen sind als Puzzlestücke eingeflossen in jene Charaktere des Stücks, die nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet sind und als Ensemble der „Namenlosen“ gespielt werden. Als Gruppe stehen diesen Verfolgten „Die Anderen“ gegenüber, die Rollennamen tragen und auf der Seite des Regimes stehen – zumindest anfangs und lange Zeit. Zu ihnen gehören unter anderem die Fabriksbesitzerin Martha Nesterval (Aston Matters) und ihr Ehemann, der Arzt Arthur Nesterval (Johannes Scheutz), der nicht nur seine Ehefrau demütigend behandelt, sondern den Fotografen F. (wie schon oben erwähnt: Martin Finnland) in jenes Bad lockt, das als Schwulentreff bekannt ist. Der schöpft Hoffnung, wenn sogar so einer wie der Arzt auf ihrer Seite steht, dann könnte der sie vielleicht vor Verfolgung schützen.

In einer sehr intensiven Szene im Bad stellt sich jedoch heraus, was zu vermuten war, dass es sich um eine Falle handelt, um F. an die Nazis auszuliefern. Mit fürchterlichen, letztlich tödlichen Folgen für diesen.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Rettungsversuche

Du kannst aber eventuell auch die Filmschauspielerin R. (Romy Hrubeš) begleiten, die versucht, ihre Berühmtheit und auch Beleibtheit bei Nazi-Bonzen zu nutzen, um die eine oder den anderen der Verfolgten zu retten – was immer weniger gelingt. Es gibt unzählige Erzählstränge, Figuren und Szenen, die natürlich immer wieder das eine oder andere Mal zu Überschneidungen und Begegnungen führen.

Wandlungen

Und die – spätestens mit der Wende im Krieg und der sich abzeichnenden Niederlage der deutschen faschistischen Wehrmacht – dazu führen, dass einstige glühend-fanatische Anhänger:innen sich vom „Führer“ entfernen. Und sei es „nur“, weil sie nun ihr eigenes Leben bedroht sehen, nachdem sie doch – wie der Arzt – an die Front beordert werden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Namenlosen“ der Performancegruppe „Nesterval“

Heftigst ist die Schluss-Szene mit ihren schlichten Grabstellen und einem – alles sei nicht gespoilert, darum nur verklausuliert umschrieben – krassen Bezug zur Realität jenseits der fiktiven Figuren des intensiven dreistündigen Stationen-Theaters, das schon emotional sehr mitnimmt. Da kommt – meiner Meinung/meinem Gefühl nach dann der Übergang zum fröhlichen Ende wieder in der Kantine mit Schlussapplaus zu abrupt.

Wenngleich in der Kantine, die anfangs als Art Bar einer der letzten Zufluchtsorte für queere Menschen in der Zeit des aufkommenden Faschismus ist, nun am Ende Chansons wie „Kann denn Liebe Sünde sein?“ der inhaltliche Bogen wieder geschlossen wird.

Szenenfoto aus

Aktuelle Bezüge

Apropos Inhalt: Das ausführliche Programmheft weist nicht nur auf die Geschichte der Verfolgung homosexueller oder von Trans*-Menschen hin, sondern stellt natürlich auch Bezüge zu aktueller Homophobie in verschiedensten Teilen der Welt her, die auch vor Österreich nicht Halt machen – siehe die erst wenige Wochen zurückliegende Kampagne mit Aufmarsch Rechts(extrem)er gegen eine Kinderbuchlesung einer DragQueen.

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