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Szenenfoto aus "Orlando Trip"

Sehnsucht nach statt Angst vor Veränderungen

Üblicherweise bringt „Wortwiege“ neue, ungewohnte Bearbeitungen bekannter Stoffe in den Wiener Neustädter Kasematten zum ersten Mal zur Aufführung. Ausnahme war schon Shakespeares „Coriolanus“ in der Regie und Spielfassung von Azelia Opak im Herbst des Vorjahres. Das Stück über toxische Kriegslüsternheit war ein halbes Jahr zuvor als Regie-Abschlussarbeit am Max-Reinhardt-Seminar zu erleben gewesen.

Eine Kasematten-Röhre als
Eine Kasematten-Röhre als „Schiffsbauch“ mit Ausblick auf Fische und andere Unterwasser-Tiere

Das diesjährige „Europa in Szene“-Herbstfestival (6. – 24. September 2023) läuft unter dem Titel „Sea Change – Die Kunst der Verwandlung“. Insbesondere der erste der langgezogenen Räume der einstigen Verteidigungsanlagen wurde zu einer Art Schiffsbauch gestaltet mit sozusagen Bullaugen-Aussicht auf diverse – animierte – Fische an den Wänden und auf der Bühne. Das Meer mit seinen Gezeiten, Wellenbewegungen, Ort weiter Reisen mit all ihren Veränderungen wird zum Hintergrund und zur Metapher für Veränderungen mit unterschiedlichsten Stücken bzw. Theaterformen. Und da an den Gestanden der Meere viele verschiedene Länder liegen wird diese Ausgabe des „Wortwiege“-Festivals noch viel internationaler – und damit oft „nur“ österreichischer Erst-Aufführungsort.

So erlebte die multidisziplinäre Performance „Dido“ ihre Uraufführung beim 26. Istanbuler Theaterfestival. Korhan Başaran machte aus dem Mythos von Dido und Aeneas ein Stück Tanztheater mit Videoprojektionen (Projektionsdesign: Ataman Girisken) zu Kompositionen von Tolga Yayalar (21. und 22. September 2023).

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Orlando Trip“, Auftritt in Rumänien

Welt-Tournee

Und das Leitungs-Duo des Festivals (Anna Maria Krassnigg, Christian Mair) bringt seine musikalisch-theatrale (Welt-)Reise „Orlando Trip“, ein Konzert mit wechselnden Video-Sequenzen nach fast einjähriger Tour – unter anderem Rumänien, Türkei, Griechenland, Bosnien, Kroatien, Frankreich, Italien; Israel – gleich nach dem Festival -, Japan, Spanien und New York stehen auf dem weiteren Tourneeplan – zur Österreich-Premiere (die englischen Lyrics erhalten in die Videos eingeblendete deutsche Übersetzungen). Die künstlerische Leiterin Krassnigg hat sich dafür einen weiteren ihrer Vornamen und den Nachnamen des sizilianischen Vaters ausgeborgt. Als Anna Luca Poloni hat sie zwölf Songtexte verfasst, die sich am Orlando-Mythos orientieren. Die Kompositionen sowie die Visuals steuerte der um einen i-Punkt veränderte Christian Maïr bei, der sie auch selber auf der Stromgitarre spielt.

Die Welt-Tour führt übrigens dazu, dass das Duo im jeweiligen Land stets neue Videos dreht, die in die nächsten Auftritte in die Visuals eingearbeitet werden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Orlando Trip“

Hruotland – Roland – Orlando

Orlando, den Virginia Woolf in ihrem Roman (der übrigens auch Ausgangspunkt für ein eben erst in Wien gelaufenes Stationen-Wanderprojekt mit digitalen Kunstwerken am Smartphone war – siehe Link am Ende des Beitrages) eines Abends in Istanbul als jungen Mann einschlafen und anderntags als Frau aufwachen lässt, steht damit für eine beachtliche Veränderung. Übersetzt textete Poloni/Krassnigg dazu unter anderem:
„Schlaf kann Tod sein
Doch der Tod ist nicht das Ende
Träume alles andere als unschuldig
Wach auf, neues Leben!“

Wobei die Autorin im Auftakt-Mediengespräch und rund um einen Probenbesuch des Konzerts von Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… auf die – kaum bekannte – Tatsache hinweist, dass Woolf „nur“ eine alte italienische Geschichte überschrieben hat: Das fast 40.000 Verse umfassende Werk „Orlando furioso“ von Ludovico Ariosto (erstmals 1516 erschienen). Ausgangspunkt für Aristo war die die sogenannte Roland-Sage, die auf dem historischen Vorbild des fränkischen Markgraf Hruotland basiert, einem angeblichen Verwandten von Kaiser Karl, dem Großen. Und da weniger seinen angeblichen Heldentaten, sondern seiner Liebe zu einer fast magischen chinesischen Prinzessin. Diese Liebe raubt ihm (fast) den Verstand.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Orlando Trip“

Neugier, „Exotik“

In dem stimmungsvollen Auf und Ab der Gefühle und ihrer Veränderungen des konzertanten theatralischen Duos schwingen Macht der Liebe genauso mit wie Angst vor Veränderung und dann doch die Energie, auf der Welle solcher Veränderungen reiten zu können. Mindestens genauso ist die Sehnsucht nach den schier unendlichen Weiten der Meere und die Neugier auf Neues spürbar. Wenngleich die Liebe zur Exotik zu einem Loblied auf „Gipsys“ verleitete, einem Begriff, den Angehörige der Roma, Sinti, Jenischen usw. spätestens eit der ersten internationalen Roma-Konferenz 1971 (!) genauso ablehnen wie das Z.-Wort, für das es ja nur die sozusagen „verbrämte“ Übersetzung darstellt.

Wermutstropfen des jetzigen Festivals: Alle Aufführungen werden nur zwei Mal gespielt, manche sogar nur ein einziges Mal. Sollte der „Orlando Trip“ gut gebucht werden, könnte, so Krassnigg, eine dritte Vorstellung eingeschoben werden.

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Foto von einem sehr frühen Test-Gang, in dem Fall im Schweizerhof der Hofburg, Station 2

Analoger Stadtspaziergang in digital erweiterte künstlerische Welten

Dass Menschen mit intensivem Blick auf ihr SmartPhone durch die Stadt gehen, hin und wieder stehen bleiben, ohne sich umzuschauen oder auf anderes zu achten als die Töne aus ihren Kopfhörern in welcher Form auch immer, ist nichts Besonderes. Selbst wenn sie in kleineren Gruppen vor einem Gebäude stehen lassen, hin und wieder auf dieses, dann wieder aufs Handy-Display starren – eher alltäglich. Vielleicht hören sie noch Infos zum Gebäude oder darüber, was in diesem alles passiert ist oder sein könnte.

Nun, zwischen 25. August und 3. September 2023 (vorerst) könnten es Teilnehmer:innen von „The Orlando Project“ sein. Du könntest/Sie können auch selber bei diesem (digitalen) künstlerischen Spaziergang mitmachen. Ausgehend von dem Roman „Orlando“ der berühmten britischen Schriftstellerin Virginia Woolf (1882 – 1941) haben Ece Anisoğlu und Julia Pacher – mit einer Reihe weiterer Künstler:innen (siehe Info-Box) ein komplexes digitales Theaterprojekt ausgedacht, konzipiert und organisiert.

Vorschaubilder für
Vorschaubilder für „Fenster“ bei Station 1

Mehr als 300 Jahre

An fünf – bewusst ausgewählten – Stationen sind auf den Displays über eine eigens dafür programmierte (noch nicht öffentliche) App digitale Kunstwerke zu sehen und mindestens genauso wichtig neu geschriebene Texte zu hören (in vier der fünf Stationen, in einer auf Englisch). Diese sind von Passagen des Romans an, in dem die Autorin einen breiten historischen Bogen baute. Denn ihr Orlando, der als junger Mann im 16. Jahrhundert zur Zeit von Königin Elisabeth, der Ersten, aufwächst, lebt deutlich mehr als 300 Jahre; zumindest bis ins Erscheinungsjahr des Romans 1928. Da fährt sie – denn irgendwann dazwischen wacht Orlando eines Tages als Frau auf – Automobil.

Verwandlung

Diese Verwandlung von Orlando, der/die übrigens Autor/in ist und eine Biographie schreibt – gut 100 Jahre bevor genderfluid verbreitetes Thema wurde, war der inhaltliche Ausgangspunkt für das Künstlerinnen-Duo, das sich bei der gemeinsamen Arbeit im Theater in der Josefstadt kennengelernt hatte – Julia Pacher im Bereich Regie, Ece Anisoğlu als Bühnenbildnerin. „Dass diese Verwandlung schon vor 100 Jahren in der Literatur stattgefunden hat, hat uns beiden sehr gut gefallen“, sagt Erstere im gemeinsamen Gespräch mit Kinder I Jugend I Kultur I und mehr… Der Schreiber dieser Zeilen durfte bei einer Preview eine Woche vor der Premiere die Tour vom Schwedenplatz bis zum MuseumsQuartier mitmachen, es war – in der Theatersprache – die Hauptprobe 2. Als sie an diesem Projekt zu behirnen begonnen haben, so setzt Ece Anisoğlu fort, „wollten wir von Anfang an ein neues Format, eine neue Ausdrucksform schaffen. Wie können wir mit Hilfe von Augmented Reality, einem Bereich in dem ich schon jahrelang arbeite, Theater neu erzählen.“

Julia Pacher und Ece Anisoğlu, die Erfinderinnen und Leiterinnen von
Interview der beiden Künstlerinnen Julia Pacher und Ece Anisoğlu mit KiJuKU-heinz

Interdisziplinär und multimedial

Und deswegen lud das Duo in der Folge unterschiedliche Künstler:innen aus verschiedensten Sparten ein – vom Text-Schreiben über Video- und Visual Art (Kunst), Erzählkunst, Tanz und Performance. Ausgehend von jeweils einer der von uns ausgewählten Roman-Passagen „haben wir uns gemeinsam mit den dafür gesuchten Künstler:innen überlegt, wie die Geschichte vielleicht anders ausgedrückt werden könnte in Kombination von Text, Storytelling, Musik, Stadtbild, digitaler Kunst, die vielleicht Türen öffnen zu einer anderen Realität oder Sichtweise.“ (Ece Anisoğlu)

„Wir kommen beide aus dem klassischen Theaterbereich und wollten größer denken, und stärker interdisziplinär denken.“ (Julia Pacher)

Magie

„Mit dieser Digitalität können wir einerseits sozusagen den Bühnenraum stark erweitern, aber auch eine andere Wahrnehmungsebene erzeugen. Es war auch für uns selbst interessant zu entdecken, wie wir damit eine Magie oder Illusion erschaffen können. Die Stadt, die Gebäude haben schon eine Geschichte. Wir erzeugen künstlich etwas Zusätzliches.“ (Ece Anisoğlu)

Die beiden hatten die Idee schon vor der Pandemie, letztere erleichterte nur die Realisierung stark, weil es neue, zusätzliche Mittel aus dem Kunst- und Kulturbudget des Bundes für digitale Formate gab. Aus 800 Einreichungen in diesem „Topf“ wurden 26 ausgewählt und gefördert – eines davon ist „The Orlando Project“, weshalb die Tour für Kunst-wanderwillige kostenlos ist.

Von Woolf inspiriert, aber neue Texte

Die Texte wurden/werden in die Jetztzeit geholt, neu interpretiert, insbesondere aus heutiger Sicht doch längst problematische Sichtweisen von vor 100 Jahren werden zurechtgerückt. Die analoge Wanderung zu realen Orten und Gebäuden aus unterschiedlichen Epochen, erweitert um digitale Kunstwerke, dauert rund 1 ½ Stunden, beginnt mit kleinen virtuellen Kunst-Fenstern auf dem Display in der Griechengasse oberhalb des Schwedenplatzes, führt zu sehr fantasievollen 3D-Bäumen im Schweizerhof des Hofburgareals, zu denen der Text von den Gedichtschreib-Versuchen Orlandos über eine Eiche erzählt.

Station 3 führt zur Rückseite des Weltmuseums. Orlando ist in Konstantinopel, wo eines Nachts die Geschlechtsverwandlung stattfindet. Und sich sozusagen Unisex-Pluderhosen angezogen. Allerdings galt es für sie nun, sich mit der neuen Lage auseinander zu setzen…

Metamor…

Station vier beim Rosengarten im Volksgarten bringt einen Ausflug in ganz andere Welten – begleitet von einer Opernarie und der Abschluss im MuseumsQaurtier an der Seitenfront zum Architekturzentrum eröffnet eine völlig neue Dimension dieser Fassade im von Mariya Peleshko produzierten, von Manuel Biedermann animierten Video einer Performance der Drag Queen, Comedian, Mode-Kunst-Performerin Metmorkid (Mix aus Metamorphose/Verwandlung, Orchidee und Club Kid-Kultur.

Viel mehr sei jetzt aber nicht verraten – höchstens noch: Die Lektüre des Romans kann hilfreich sein, ist aber keinesfalls Voraussetzung, die hier eingangs beschriebene Grundsituation reicht. Und es ist jedenfalls empfehlenswert, sich auf die ohnehin recht kurzen (vier bis sechs Minuten) Videos und Texte einzulassen, um wirklich in diese Welten eintauchen zu können. Aber dann ist es ein spannendes, interessantes anderes Erleben von Verschmelzung von Stadt, Theater, Video, Audio, Performance in einer multimedialen Erzählung.

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