„Tschernobyl – eine Chronik der Zukunft“ frei nach dem Buch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in einer beklemmenden Inszenierung von Werk X im Odeon Theater (Wien).
Auf dem Weg in den Publikumsraum zeigten sich manche Besucher:innen sogar verschreckt und meinten, falsch zu sein. Menschen in weißen Schutzanzügen, Gasmasken und scheinbaren Messgeräten tasten Wände und Böden ab. Klar, worauf sie anspielen, ergibt sich schon aus dem Stücktitel „Tschernobyl – eine Chronik der Zukunft“. Für ältere Semester tauchen sofort Bilder auf von Angst durch Regenwolken, Warnungen, ja nicht mit Kindern auf Spielplätze und Sandkisten zu gehen – Ende April, Anfang Mai 1986.
Jüngere Menschen kennen die Sache nur mehr aus Dokus zu runden Jahrestagen. Heuer war so einer: 35 Jahre her und damit ist der erst vertuschte der Reaktorunfall in der Nähe, der eigens für den Betrieb dieses Atomkraftwerks aus dem Boden gestampften Stadt Prypjat in der Ukraine – damals Teil der Sowjetunion – eine Sache für die Geschichtsbücher. Noch dazu, wo Österreich sich in einer Volksabstimmung acht Jahre (5. November 1978) zuvor mehrheitlich gegen das Aufsperren des einzigen gebauten AKW ausgesprochen hatte.
Lügen und die anfangs mehr als notdürfte Bekämpfung des Unfalls sind auch Themen der Szenen im Odeon-Theater. Das eignet sich aufgrund der großen, weiten, hohen Bühne ideal, das hätte jene im Werk X am Petersplatz (dessen Produktion es – gemeinsam mit Theaterkollektiv Hybrid ist) nie leisten können. Verstärkt wird die praktisch durchgehend eineinhalb Stunden währende beklemmende Stimmung durch düsteres Licht (Szenografie: Geraldine Massing, Lichtdesign: Ines Wessely, Anna Bauer).
Waren Explosion, Brand, der unmittelbare Unfall weltweites mediales Thema und sind es so alle paar Jahre wieder, so widmet sich das Stück, das auf dem gleichnamigen Buch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aufbaut, dem alltäglichen Leben, eher Dahinvegetieren der Menschen in der Umgebung des einstigen AKW. Die Autorin (in der Ukraine geboren, in Weißrussland aufgewachsen) hatte im Verlauf von rund zehn Jahren mehr als 500 Beteiligte und Betroffene sowie Fachleute – Liquidatoren und Feuerwehrleute, die den Brand bekämpften und die Unfallstelle zuschütteten, Mediziner:innen, Physiker:innen – ebenso befragt wie Bürger:innen und Politiker:innen.
Aus der Fülle dieses umfangreichen Materials destillierte Alireza Daryanavard das nunmehrige Stück, das auf der Bühne schon i Gange ist, wenn sich die Zuschauer:innen zu ihren Plätzen begeben. Ein Kind (Lorenz Pelle, siehe auch eigenes Interview mit ihm) schaukelt in dystopischem Ambiente hin und her, her und hin – ewig lang. Mit Gasmaske. Spooky!
Spotmäßig rücken die Darsteller_innen, die Einzelschicksale verkörpern und teilweise die meiste Zeit in düsterem Licht zu sehen sind, hin und wieder ins Zentrum. Die Frau, die versucht, Wäsche von Strahlenbelastung zu reinigen (Ane Wiederhold) klagt das Leid ihres Kindes und seiner Missbildungen aufgrund der Verstrahlung. Der Offizier (Sebastian Pass) pendelt zwischen „Wässerchen“ saufen und schimpfen auf seine Ehefrau, die ihn gemeinsam mit der 6-jährigen Tochter verlassen hat und ergeht sich in Selbstmitleid. Kein Funken, dass er Frau und Kind vielleicht das Entkommen aus dieser Welt gewordenen Hölle vergönnt.
Mit voller Härte agiert Simonida Selimović als Jägerin versuchter Tiere und Hüterin des Schrottplatzes, geheimnisvoll die im Wald sich versteckende Grace Mara Latigo deren Vertrauter der Bub ist, der irgendwann von seiner Schaukel steigt. Fast ein bisschen phlegmatisch wirkt der Erdäpfelbauer (Thomas Frank), der offenbar auswärts arbeitet, aber immer wieder zurückkehrt, um die Kartoffel zu „ernten“. Und dann erleben wir noch den zynischen Krisengewinnler (Morteza Tavakoli), der mit seinem Leiterwagen zwischen der verstrahlten Umgebung und der nächsten Stadt pendelt. Erdäpfel, Pelzmäntel und was auch immer hier einsammelt, um es dort zu Geld zu machen und dafür wiederum den Genannten einige Dinge aus der Stadt bringt. Neben Zynismus spielt er noch auf Fake News, alles nicht wahr, „bloß Radiophobie“. Jede der Personen ziemlich authentisch dargestellt, teils zum kalt über den Rücken runter rieseln…
In anderen Szenen schleppt er immer wieder eine alte Eingangstür auf dem Rücken. Bis ein Sarg kommt, müssen Tote auf der Haustür abgelegt werden… Mehr als bedrückend, wenn der Bub (Lorenz Pell) auf diese gelegt wird nachdem er sich in Erde gewälzt hat.
Manch weitere Szene sei hier nicht vorweggenommen, vielleicht nur das Ende, das den Bogen zum hier und heute schlägt: Riesige mit Spiegelfolien beklebt Teile werden an den Rand der Bühne vor die Szenerie gestellt, womit das Publikum sich selbst sieht bzw. Spiegel vorhalten lassen muss. Und einige der Weißgewandeten in Schutzanzügen versprühen Theaterrauch, sodass die Zuschauer:innen in diesen Wolken sitzen, vernebelt werden. Bis der Blick wieder frei wird – auf den „Chor“ der Menschen in Schutzanzügen mit Gasmasken, die nun Transparente auf die Bühne tragen. Hinweise auf weitere große AKW-Unfälle bis zu jenem nach dem Tsunami in Fukushima vor zehn Jahren, auf Schrottreaktoren und dass selbst in Österreich elf Prozent des Stroms aus Atomenergie (der Nachbarländer) bezogen wird.
Teaser TSCHERNOBYL. Eine Chronik der Zukunft © The Raven Films
nach Swetlana Alexijewitsch
Theaterkollektiv Hybrid in Kooperation mit Werk X-Petersplatz und dem Theaterverein Odeon
Konzept, Textfassung & Inszenierung: Alireza Daryanavard
Frau im Wald: Grace Marta Latigo
Jägerin und Schrottplatzaufseherin: Simonida Selimović
Wäschewascherin und Mutter: Anne Wiederhold
Erdäpfelbauer: Thomas Frank
Soldat: Sebastian Pass
Kind: Lorenz Pell
Krisengewinnler/Vater: Morteza Tavakoli
Junge Spieler*innen: Theo Angerer, Miriam Messinger, Flora Mosleh, Ana Tomić, Emma Wiederhold
Chor: Heide Anger, Brigitta Boninsegna, Francesca Cutarelli, Hedwig Glatz, Hannah Kortschak, Doris Pollany, Heidrun Schultz, Oluchukwu Akusinanwa, Karl Berger, Wolfgang Horniczek
Szenografie: Geraldine Massing
Musik: Mia Zabelka, Zahra Mani „Out of Silence“; Lukas Lauerman „herent/full“ & „INprogress #4“; Dirk Dresselhaus, Ilpo Vaeisaenen, Hildur Gudnadottir „In Transmediale“
Maske: Erika Depisch
Technik: Urdyl Bauer, Michael Illich, Radivoje Ostojić
Dramaturgische Beratung: Veronika Maurer
Ausstattungsassistenz: Therese Rosenauer
Produktionsleitung: Julia Haas
Lichtdesign: Ines Wessely, Anna Bauer
Regieassistenz: Lisanne Berton
Hospitanz: Michèle Tacke
Teaser & Trailer: The Raven Films
Dauer: ca. 1 ¼ Stunden (ohne Pause)
Bis 16. September 2021
Odeon, 1020, Taborstraße 10
Telefon: 01 216 51 27
karten@odeon.at