Ein deutscher Skandal, die NSU-Morde, grandios erzählt, gespielt, gebrochen und mit Tiefgang versehen – im Werk X Kabelwerk nach dem Film von Fatih Akın.
Heftige Disco-Rhythmen klingen aus dem Sall ins Foyer hinaus. Nach und nach kommen die Zuschauer:innen rein, die sechs Darsteller:innen tanzen voll wild ab zu „Wir feiern die ganze Nacht“, DEM Hit von „Die Atzen“, einem von den Rappern „Frauenarzt“ und „Manny Marc“ vor mehr als zehn Jahren in Berlin gegründetem Duo, das Hip*Hop mit Electro mixt. Die powern sich aus, animieren das Publikum mitzugrooven.
Und das zwischen einem zerdepperten Fahrrad und einer Box, die an ein gesprengtes Lokal erinnert. Wie „Aus dem Nichts“ dann der Übergang. Rot-weiß-rote Baustellen-Absperrbänder waren schon vorher da. Eine Frau, Katja Şekercı gespielt von Constanze Passin, rennt, will durch die Absperrung. Polizisten halten sie auf. Sie will wissen, was da los ist. Darf nicht durch. Irgendwann taucht der Oberermittler auf, teilt ihr mit, Ihr sechsjähriger Sohn und sein Vater wurden bei der Explosion getötet.
Nicht nur, dass sie ihre Liebsten verloren hat, verdächtigen die Ermittler das Opfer mehr oder minder selbst schuld zu sein, Drogengeschäfte, ethnische Bandenkonflikte usw. Die erste, naheliegende Vermutung der Witwe „es waren Nazis“ wird abgetan, nein abgeschmettert. Im Prozess wird sie nochmals gedemütigt, Täter:innen – wie sich dann dich herausstellte aus der Neonazi-Szene – freigesprochen.
Der Fall Şekercı ist zwar in fiktiver, den der Filmemacher Fatih Akın als Haupt-Handlungsstrang erfunden hat. Doch Film und seine sehr beeindruckende, berührende, immer wieder den Atem stocken lassende Bühnenfassung (Ali M. Abdullah) derzeit im Werk X Meidling (Kabelwerk) orientieren sich teils sehr detailgetreu an den Morden des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) in den ersten sechs Jahren des 21. Jahrhunderts in Deutschland. Obwohl die Ermittlungsbehörden – „dank“ der starken Involvierung von Verfassungsschutzleuten in der Neonazi-Szene – mehr wussten, ja teils deren Aktivitäten sogar förderten – wurde der Öffentlichkeit lange „Döner-Morde“ vorgegaukelt. Konflikte unter Migrant:innen und so weiter.
Diese empörende Skandalgeschichte – hierzulande für viele fast unbekannt – wird von dem großartigen Ensemble in einer sehr starken, spannenden Inszenierung – nicht linear gespielt, sondern immer wieder gebrochen. Nicht nur durch die irritierende Disco-Eröffnung, sondern auch flashartig immer wieder zwischendurch. Und durch eine Passage, in der die Chronologie der NSU-Morde aber auch späterer faschistischer Anschläge etwa in Halle und Hanau sowie die Namen aller Opfer genannt werden – die groß geschrieben auch als Plakat an den Wänden im Bühnenhintergrund hängen.
Constanze Passin wurde schon oben erwähnt als Darstellerin der Witwe, die glaubhaft zwischen Trauer, Wut, Ohnmacht und Verzweiflung pendelt und einen Racheplan entwickelt, weil sie sich allein gelassen fühlt. Ihren Anwalt Danilo Fava spielt Okan Cömert – einerseits tough im Gerichtssaal, andererseits fast freundschaftlich unterstützend, aber letztlich doch mit Floskeln die Mandantin nicht mehr emotional erreichend.
Sebastian Klein gibt den abgehobenen leitenden Ermittler ebenso authentisch wie der Nazi-Mittäter Jürgen Möller sowie – nur mit anderer Jacke dessen entsetzten Vater André, der als Zeuge gegen den Sohn aussagt. Peter Pertusini schlüpft vom Polizisten in die Rolle des zwar effizienten, aber dennoch fiesen Strafverteidigers des Möller-Pärchens. Darüber hinaus ist er Erzähler und bringt den Österreich-Bezug über neonazi-Szene und Neue Rechte ein. Immerhin berufen sich sogar internationale rechtsextreme Mörder auf Thesen der heimischen „Identitären“. Sebastian Thiers ist Polizist, Richter und nicht zuletzt der griechische Neonazi von der „Goldenen Morgenröte“, der dem Attentäter-Paar ein gefälschtes Alibi verschafft.
Schließlich erleben wir Zeynep Alan in unterschiedlichsten Rollen. Von der naiven, so rein gar nichts begreifenden Birgit als Freundin von Katja über die zynische Bombenlegerin Edda Möller bis zur scheinbar nichts-ahnenden Rezeptionistin im Hotel des griechischen Faschisten. Via Live-Video aus einer der Bühnen-Ecken auf die Wand über dem explosions-zerstörten Laden kommt von ihr wohl die stärkste strukturelle Ansage. Dazu mehr in den folgenden Absätzen.
„Aus dem Nichts“ geht weit tiefer, über den „Fall“/die „Fälle“ hinaus, und holt das Publikum aus der Komfortzone. Selbstverständliche Distanzierung, Ablehnung solcher Gräueltaten sowie Verurteilung der Verwicklung der Ermittlungsbehörden, Vertuschungen, Täter:innen-Opfer-Umkehr usw. ist ja einfach. Aber das Bennen, dass Rassismus als ideologischer Überbau für Kolonialismus dient, die Abwertung ganzer Menschengruppen samt Verweigerung der Menschenrechte für sie und ähnliches als Mittel, um eigene Privilegien, besseres Leben zu rechtfertigen – wenn die Schauspieler:innen dieses an- und aussprechen – so bewirkt das Hinterfragen der eigenen Positionen.
Auch wenn die Sätze, die das am schärfsten auf den Punkt bringen wahrscheinlich von den meisten im Publikum nicht verstanden werden. Switcht Zeynep Alan doch – mit der Kritik daran, dass erst recht wieder ein weißer Mann den Kolonialismus erklärt – dabei ins Türkische. Die Irritation ist gut, super. Nachgefragt, was Alan gesagt hat, sei hier die Übersetzung ins Deutsche veröffentlicht:
„Ja die Katze die sich in den Schwanz beißt. Fakt ist doch, das der Kolonialismus seit jeher da ist. Das ist doch kein zeitliches Phänomen, das kommt und geht. Kolonialismus ist noch lang nicht Geschichte, sondern wird modernisiert weitergekaut ausgespuckt und wieder gefressen. Und jetzt, wo es keine befriedigende Antwort oder Lösung auf dieses Problem oder diese Frage gibt, da komme ich ins Spiel? Echt jetzt? Ich, eigentlich nicht wirklich fremd, aber fremd genug um den schon längst verstopft, vermodert und schleimigen Abfluss freizukriegen?
Ich glaube wir, in unserer Blase sind an einem Punkt angelangt, wo das Ursache- Wirkungs-Prinzip, von all den vorangegangenen Theorien/Ideologien geklärt ist. Wir, die Ausbeuter, die noch immer an den Früchten der Ausgebeuteten zerren. Ich denke es ist an der Zeit aus dieser, „ah mein Arsch fühlt sich so wohlig an Komfortzone“ rauszukommen. Denn nur mit Wort und Schrift, Intellekt, Theorie-Scheiße, können wir offensichtlich nichts verändern. Und so läuft der Kreislauf nun weiter, so wie jeher und die Geschichte wiederholt sich mit oder ohne die großen weißen DenkerInnen.“
Einige meist als Lichtgestalten aufgeklärten, demokratischen Denkens gefeierte Autoren, denen dies wohl kaum jemand zutrauen würde, werden mit Aussagen über Menschen, die sie mit dem N-Wort bedenken, zitiert. Wobei es weniger um das Wort geht, das in früheren Zeiten kaum bis nicht hinterfragt wurde, sondern um die Abwertung, die Einteilung in höher- und niederwertigeres Leben… Ebensowenig wie die verschiedenen Brüche sollen auch hier diese Namen nicht gespoilert werden. Das würde die perplexe Überraschung vorwegnehmen.
nach dem gleichnamigen Film von Fatih Akın
Inszenierung: Ali M. Abdullah
Cast
Katja Şekercı: Constanze Passin
Ihr Anwalt Danilo Fava: Okan Cömert
Ihre Freundin Birgit sowie Attentäterin Edda Möller und Rezeptionistin in griechischem Hotel: Zeynep Alan
Attentäter Jürgen Möller, sein Vater André, Leiter der Ermittlungen: Sebastian Klein
Strafverteidiger Haberbeck, Polizist, Erzähler: Peter Pertusini
Richter Grabow, Polizist, Griechischer Nazi von der „Goldenen Morgenröte“ Nicolaos Makris: Sebastian Thiers
Im Video als Rocco Şekercı: Siyaband Çinkılıç
Sein – ebenfalls ermordeter – Vater Nuri: Ali Çinkılıç
Bühne & Kostüm: Renato Uz
Dramaturgie: Hannah Lioba Egenolf
Regieassistenz: Clara Obkircher
Bis 6.November 2021
Werk X- Kabelwerk: 1120, Oswaldgasse 35A
werk-x.at -> Aus dem Nichts
Audioeinführung: werk-x.at – Audio-Einführungen