Ehemaliger Neonazi trifft Holocaust-Überlebende, die ihn nicht verurteilt, sondern seine Beweggründe wissen will. Er bedauert, nicht in der Schule auf Zeitzeug:innen getroffen zu sein.
Die Familie muss übersiedeln. Damit verliert Emil all seine Freunde, seine Kumpels vom Fußballspielen, die beginnende erste Liebe. Seine Eltern verstehen ihn nicht, seine Entwurzelung scheint ihnen egal zu sein. Er kapselt sich ab. Bist ihn eines Tages ein Mitschüler, der seine Gemütslage zu verstehen, fühlen, scheint, anspricht und ihm Musik zu hören gibt. Aggressives Zeugs, das ihm guttut, seine Stimmung, seine Gefühle widerspiegelt. Rechtsrock. Nach und nach kommen die beiden ins Gespräch, der neue, erste Kontakt und Freund in der neuen Stadt verschafft ihm Zu- und Eintritt zu einer Freundesgruppe – von Neonazis.
Musik, Bier, Konzerte, Hass auf andere, Fremde vereinen sie. Emil beginnt sich bei Schlägereien und anderen Aktionen hervorzutun – auch bei einem Brandanschlag auf – zum Glück noch leere – Container für Geflüchtete. Feuerwehr und Polizei sind rasch zur Stell. Emil verletzt einen Polizisten, kommt vor Gericht, wird verurteilt und landet für drei Jahre und vier Monate im Gefängnis.
Die laufenden Gesprächen mit dem dortigen Psychologen lassen ihn erstmals über seine Taten – und später auch seine Einstellung – nachdenken, sie in Frage zu stellen und letztlich zu überwinden.
Nach Verbüßung seiner Haftstrafe trifft er auf Anne, eine ältere Frau, die als Kind miterleben musste, wie sie und ihre Eltern erst immer wieder vertrieben wurden, weil sie Jüd:innen waren – immer weiter ostwärts. Noch als Kind muss sie mitanhören, wie Nazi-Soldaten ihre Eltern erschießen, nachdem diese ihr zugerufen haben, wenigstens sie möge davonrennen. Im Waisenhaus in dem sie landet, wird sie frisch wieder ausgegrenzt. Doch sie hat das Glück, die Befreiung zu er- und damit zu überleben. Und tritt immer wieder vor Schulklassen auf, um als Zeitzeugin ganz konkret zu schildern, wie die Herrschaft des Faschismus sich auf sie und Tausende andere ausgewirkt hat.
Mitunter ist der Mitt-20-Jährige bei den Gesprächen mit der alte Frau, wo sie beide über ihre jeweilige Kindheit und Jugend reden, erstaunt, dass sie ihn oder wenigstens seine früheren Verhaltensweisen nicht rüde ablehnt, sondern nachfragt, wissen will, was in ihm vorgegangen ist, warum er so gehandelt hat. Er bedauert, in der Schule nicht so eine Zeitzeugin getroffen zu haben.
Die rund 260 spannend, phasenweise sogar packend geschriebenen Seiten dieses Buches von Reiner Engelmann bauen auf wahren Geschichten auf. Da es sich um einen echten Aussteiger aus der Neonazi-Szene handelt, hat der Autor, wie er im Vorwort schreibt, einige Details verfremdet, um das Leben dieses jungen Mannes und seinen neuen Weg ohne Fremdenhass nicht zu gefährden. Und auch wenn Annes Leben authentisch ist, hat auch er ihr ein Pseudonym verpasst, damit er die Übergänge zwischen den jeweiligen Erzählblöcken freier gestalten konnte.
Im Epilog lässt der Autor Emil fragen: „Hassen Sie die Deutschen? … Sie haben doch Ihre Eltern umgebracht, und wenn ich darüber nachdenke, wie schlimm Ihre Kindheit war … könnte ich das gut verstehen.“
„Es waren ja nicht alle Deutschen, die meine Eltern ermordet haben, und es gab auch damals Menschen, die Hitler nicht blind gefolgt sind. Natürlich waren das nur sehr wenige, aber immerhin…“ antwortet Anne. „… Hass ist ein Gefühl, das man zunächst einmal in sich selbst spürt, ein Gefühl der Ablehnung… ich wusste wie es ist, abgelehnt zu werden, sich verstecken zu müssen, täglich Angst zu haben… ich wollte das nicht wiederholen… erst recht nicht denen, die ich überhaupt nicht kannte, solche Gefühle entgegenbringen. Doch bevor Gefühle wie Hass bei anderen ankommen, sind sie ja zunächst einmal in einem selbst, und das ist sehr unangenehm.“
Diese Offenheit der Anne – und des Buches insgesamt, das nicht von vornherein vor-verurteilt, sondern wie die Protagonistin verstehen will, wie und warum der Antagonist in seine Lage gekommen ist, könnte Jugendliche, die mit solchen oder auch ganz anderen extremistischen Gruppen sympathisieren, auch wirklich erreichen.
Text: Reiner Engelmann
Hass und Versöhnung – ein ehemaliger Neonazi und eine Holocaust-Überlebende begegnen sich
260 Seiten
Ab 14 Jahren
cbt /cbj Kinder- und Jugendbuch in Penguin Random House Verlagsgruppe
Taschenbuch: 10,95 €
eBook: 6,99 €
Zu Leseproben geht es hier
und zu einer Leseprobe aus dem Glossar, einer Begriffserklärung am Ende des Buches geht es hier
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen