„erstrahlen“ verknüpft an mehreren Stationen einer ehemaligen Schule Theater-Szenen mit Performance, Musik, Malerei und baut Anklänge an verschiedene Mythologien ein.
Anfang April verwandelt sich der Creative Cluster- eine ehemalige Schule in der Viktor-Christ-Gasse – in Wien Margareten zum (Un-)Ort einer theatralen, performativen Handlung. Das Betreten des Geschehens erfolgt erst nach einem kompromisslosen echten G-Test sowie gespieltem Strahlen-Check und dem (realen) Überziehen von Schutzpatschen.
Es dreht sich um das performative Stationen-Theaterstück „erstrahlen“ von „lab42“. Kinder I Jugend I Kultur I und mehr … durfte einen Probennachmittag besuchen. Hier ein Bericht von Fatima Kandil, seit einigen Monaten als Schnupper-Journalistin:
Einige Jahre nach meiner Matura befinde ich mich in einem großen, hallenartigen Raum. Ein Raum, der zur Ausübung verschiedener Sportarten gedacht war. Klettertaue, Kletterstange und die Gitterleiter, meine ehemaligen Feinde, sind auch anwesend, aber kaum zu sehen. Denn aus dem ehemaligen Turnsaal ist ein (imaginäres) Patientenzimmer sowie die computergesteuerte Zentrale „des Werks“ geworden. Hier begegnen einander die Hauptfiguren des Stücks, Überlebende eines atomaren Unglücks zum ersten Mal nach acht Jahren.
Die nächste Szene findet im Duschraum statt. Ludmilla (Johanna Mucha) bemalt sich anfangs euphorisch und glücklich mit goldener Körperfarbe. Plötzlich beginnt die Stimmung zu kippen. Die Schauspielerin wird immer panischer und wirkt steifer. Gegen Ende erweckt sie den Anschein, regelrecht an der Körperfarbe zu ersticken. Das Bizarre an der Szene war die persönliche Erkenntnis, dass meine Langform-Latein-Einheiten mir tatsächlich nun zu Gute gekommen sind.
Ich konnte nie etwas mit den Grammatikeinheiten des Lateinunterrichts anfangen. Die Sagen und Mythen der griechischen Mythologie (sehr Vieles davon ja in die römische übernommen) hingegen habe ich gerne übersetzt und gelesen.
Ludmilla verkörpert in der soeben geschilderten Szene König Midas. Dieser mächtige König hatte nur einen Wunsch: Alles in Gold verwandeln zu können. Diesen Wunsch erfüllt ihm Gott Dionysus. Midas erfreute sich anfangs daran, erst als sich nicht nur Äste und Steine, sondern auch lebenswichtige Lebensmittel und Familienmitglieder und eigene Körperteile zu Gold verhärten, realisiert er die Folge seiner Gier.
Ob auch jene, die keinen allzu engagierten (Latein-)Unterricht hatten, bei dieser Szene auf die Mythologie des Midas zurückschließen können, bezweifle ich jedoch ein wenig. Dies wurde auch den Theaterleuten übermittelt. Noch überlegen die Künstler:innen, ob solche Hinweise nötig wären. Eigentlich bauen sie darauf, dass sich auch ohne Kenntnis der Sage die Folge der schrankenlosen Gier selbst erschließen.
Das Ensemble rechnete bereits mit solch einem Feedback und überlegt, wie es am Ende sein wird. Entweder man behält die Ambiguität der mythologischen Szenen, um den ZuseherInnen mehr Raum für die eigene Deutungshoheit zu gewähren oder man verweist etwas direkter/dezenter auf den Hintergrund der mythologisch inspirierten Szenen.
„erstrahlen“ heißt diese „Thrill-Tour“, wie „laboratorium 42“ das Stationenspiel mit performativen Elementen nennt. Und ein wenig tauchen Bilder von Touren durch „lost places“ auf, die seit einigen Jahren voll in sind – beispielsweise auch rund um Tschernobyl, dem bisher größten AKW-Unfall der Geschichte (26. April 1986).
Es ist die dritte, selbst entwickelte und inszenierte Performance. „erstrahlen“ mag auf dem ersten Blick „nur“ von atomaren Unfällen (historische reale Stichworte: Tschernobyl oder Fukushima) handeln. Dem ist aber nicht so. Das Stück erzählt die Geschichte von drei Menschen, die eine prägende einschneidende Erfahrung verbindet und ist eine teils sehr intime Performance über Selbstbestimmung, 9 und den Umgang mit allzu menschlichen Fehlern. Außerdem möchte es jedem/r eine Chance auf Hoffnung, Vergebung und Liebe geben.
Nicht zuletzt tauchen bei der Erinnerung der Krankenschwester an eine fürchterliche Triage-Entscheidungs-Szene – wer von zwei Patient:innen kriegt die lebensrettende Spritze – sehr aktuelle Krankenhausberichte auf.
Und die Rahmenhandlung – Unfall in einem AKW – mahnt angesichts der aufgeflammten aktuellen absurd wirkenden EU-Debatte, ob Atomspaltungs-Verstromung nicht gar als „grüne“ Energiegewinnung zählen sollte.
Auch wenn die sprachliche Ebene den Ausgangspunkt der Inszenierung bildet, begleiten Elemente wie Gesang, Klang und Bewegung die ZuschauerInnen und laden diese zur Teilhabe an einer Geschichte ein, die schon lange darauf wartet, erzählt zu werden.
Unterschiedliche Bilder/Nuancen aus der Mythologie wie die erwähnte von Midas, aber auch u.a. Ikarus oder Persephone fügen sich in die realen Szenen des Stücks ein und bilden eine Gegenwelt. Eine, die von realen Menschheits-Aktivitäten durchaus zerstört werden kann – wie in der Mal-Szene von Atlantis, einer Art sagenhafter Utopie. Die hier durch zu viel und zu nasses Weitermalen seiner papierenen Basis beraubt wird.
Eine mysteriöse Stimme aus dem Off weiht uns zu Beginn der Vorstellung aus einem Fenster des Stiegenhauses in das Geheimnis der finnischen Schöpfungsgeschichte ein – begleitet vom Rauschen des Meeres und dem Prallen von gewaltigen Wellen.
Danach geht es auch schon an den Stiegen vorbei, Richtung Turnsaal in „das Werk“. Dort treffen wir die Pflegefachkraft Anne Netćek (Peta Klotzberg), den chemischen Strahlentechniker Alexander Gratsz und die Apothekerin Ludmilla Draschkovic (Johanna Mucha). Acht Jahre nach dem Strahlenunfall sind Anne und Alex zur selben Zeit an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Alex hatte inmitten eines Drogenrausches fahrlässig gehandelt und zur Verschärfung der Situation beigetragen. Den Weg zu den Drogen hatte ihm Ludmilla geebnet. Anne hingegen musste sich im Krankenhaus der Triage bedienen und verabreichte die letzte lebensnotwendige Spritze einer werdenden Mutter anstelle eines älteren Mannes – für den sie eigentlich bestimmt – und von Verwandten bezahlt – war. Bis heute plagen sie die Erlebnisse von damals.
Hätte Anne anders handeln können oder gar müssen? Kann sich Alex selbst verzeihen? Sollten beide sich selbst von ihren Emotionen lossprechen dürfen? Muss man Reue zeigen, um neu anzufangen? Wer bin ich abseits meiner Entscheidungen? Wie will ich wahrgenommen werden? Was will ich erreichen?
Diese und mehrere weitere Fragen begleiten das Publikum dank der mit Bedacht ausgewählten Theaterformen mit großer Gewissheit auch beim Verlassen des Unorts.
Regie bei diesem Stück führt Hayder Saad. Er wurde 1990 in Kirkuk, Irak geboren, studierte dort Theaterwissenschaften und war viele Jahre als Schauspieler und Regisseur international tätig. Seit sechs Jahren ist Österreich sein Lebensmittelpunkt. Hier hat er bereits mehrere Stücke als Regisseur begleitet und im Theater Rollen als Schauspieler übernommen.
Als Regisseur ist er normalerweise selbst für Text, Konzept und Regie zuständig. „Erstrahlen“, geschrieben von Peta Klotzberg, ist das erste Projekt, bei dem er Regie führt, ohne als Autor beteiligt gewesen zu sein: „Ich bin erst später zu diesem Projekt als Regisseur gestoßen, da es natürlich vor allem für Peta schwer war, als Autorin die Regie zu führen und im selben Moment als eine der drei Proganistinnen aufzutreten. Dennoch konnte ich mich von Anfang an mit dem Stück identifizieren, da es sehr wichtige und aktuelle Themen wie nukleare Energie, Umwelt, Medizin etc. behandelt. Aber vor allem handelt es vom Leben. Von Ereignissen, Begegnungen und Entscheidungen, die das Leben prägen und ändern können.“ Besonders die modernen Elemente des Theaterstücks haben es ihm sehr angetan: „Ich mag das moderne Theater sehr. Vor allem als Schauspieler bevorzuge ich moderne Theaterformen. Als Regisseur beschäftige ich mich gerne mit den diversen Formen und Elementen, weil ich der Meinung bin, dass auch das Theater, genauso wie Smartphones und Apps, Updates zulassen sollte.“
Updates – die vielfach schon seit Jahrzehnten aber doch nicht allzu oft üblich sind: Stationen, keine Rampe, welche die Bühne vom Zuschauerraum zu trennen vermag. „Die echte Bühne eines Theaters muss nicht auf eine traditionelle Rampe beschränkt sein. Man verliert ZuschauerInnen nicht, wenn man die Grenze zwischen ihnen und der Inszenierung abschafft. Ganz im Gegenteil durch die aktive Einbindung, wie wir es in diesem Stück vorhaben, bleibt das Publikum neugierig und wird meines Erachtens nach zum wahrhaftigen Miterleben des Stücks animiert. Genau dieses kollektive Miterleben, macht die Handlung erst aus. Diverse performative Elemente wie Gesang und Tanz verstärken die Stimmung der jeweiligen Handlungsstränge und kurbeln auch eine gewisse emotionale Dynamik an, die man ansonsten in Bezug auf Katastrophen oder globalen Ereignisse vielleicht kaum verspürt.“
Fatima Kandil auf Instagram
Mitarbeit: Follow@kiJuKUheinz
Theaterstück mit performativen Elementen, Gesang und Körpertheater
lab42
ca. 1 ½ Stunden
Konzept: Eric l. Willers
Text: Peta Klotzberg
Regie: Hayder Saad
Protagonist:nnen /Cast:
Pflegerin Anne Netćek: Peta Klotzberg
Strahlentechniker Alexander Gratsz: Thomas Jost
Apothekerin Ludmilla Draschković: Johanna Mucha
Thrill-Tours-Guide Patricia v. Pulsinger: Nina Batik
Komposition: Karrar al Saedi
Licht, Video, Foto: Marcus Marschalek
Video, PR, Foto: Sophie Mashraki
Erster April 2022; 19.30 Uhr
2. April 2022; 16.30 und 19.30 Uhr
Creative Cluster (Diverse Räume, Stiegenhäuser und Gänge):
1050, Viktor-Christ-Gasse 10
Tickets unter: lab42@gmx.net
Telefon: 0650 770 53 87