„Wolga“ – ein Stück über eine Verschwörungstheorie aus den 60er-Jahren rund um Luxus-Autos dieser russischen Bauart im WerkX Petersplatz (Wien)
Großformatige schwarz-weiß Cartoons an stilisierten Ziegelmauern. Bedrohlich kommt darin etwa ein schwarzes fettes Auto auf dich zu, Totenkopf am Beifahrer:innen-Sitz. Auf anderen der Comics, rausquellende Augen. Spooky, blutrünstig. Auftritt zweier Schauspieler:innen, die den Comics entsprungen zu sein scheinen.
Lara Sienczak und Florian Tröbinger klagen eindringlich und nachdrücklich über die immer näher kommenden Bilder, die sich schließlich sogar von ihrem Trägermedium, der Plakatwand, lösen, in die Köpfe eindringen. Angst. Angst. Angst. Verstärkt um Geräusche, die teilweise ins Unerträgliche kippen – live produziert am Bühnenseitenrand von Ricaletto in bäuerlichem Großmutter-Kopftuch mit russisch anmutenden Mustern.
„Wolga“ – derzeit im Werk X-Petersplatz – führt in eine dystopische Welt. Nein, es geht nicht um Russlands Überfall auf die Ukraine, auch nicht vorherige Kriege in Georgien oder Tschetschenien. Stephan Langer (Text) und „Rohe Eier 3000“ (Inszenierungs-Kollektiv) greifen in diesem Stück eine Urban Legend aus den 60er Jahren, die vor allem in Polen zirkulierte, auf. Geheimnisumwitterte Männer in schwarzen Luxus-Limousinen der russischen Marke Wolga sammeln Kinder ein.
Das Schauspielduo erzählen Geschichten von Kindern, die von solchen Autos verfolgt werden. Kindern, die gefangengenommen und auf den Rücksitzen entführt werden, um ihnen alles Blut abzuzapfen oder innere Organe zu entnehmen. Beides wird gegen Devisen ins westliche Ausland verkauft. Noch Jahrzehnte später haben sie Albträume von solchen Geschichten, der Verfolgung, dem Wegrennen, sich verstecken und möglicherweise doch nicht entkommen. Fake News können doch echte Ängste erzeugen. Und obwohl du weißt, es ist nur ein Theaterstück und die Geschichte dahinter auch nicht wahr, verschaffen die beiden auf der Bühne es mehrmals, dass du dich im Publikum irre schreckst.
Bei den „Wolga“-Geschichten handelt sich genauso um eine Verschwörungstheorie wie sie vor einigen Jahren von der Fake-News-verbreitenden „QAnon“-Bewegung in den USA über die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton in die Welt gesetzt wurden. Demnach hätte sie mit Vertrauten Kinder entführt, um deren Blut für Verjüngungskuren zu verwenden.
Kinderblut spielt schon seit Jahrhunderten in uralten antisemitischen Ritualmordlegenden eine Rolle, die sehr oft Jüdinnen und Juden in die Schuhe geschoben wurden.
Hingegen soll es die „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory historischen Zeugnissen zufolge wirklich gegeben haben, die im 17. Jahrhundert vor allem in Ungarn aber auch in Wien junge Mädchen gequält und umgebracht hat, um sich deren Jugend anzueignen, wie sie Theater-Fiakerin Susita Fink auf ihren Kriminal-Touren erzählen lässt – Reportage über die Theaterfiakerin
Kleine kritische Anmerkungen: Vielleicht, um Lacher relativ zu Beginn zu erzeugen, spielen die beiden mit den – natürlich kyrillisch geschriebenen – Buchstaben der Automarke (Волга), um von Bolza zu faseln. Noch dazu wo das Stück „Wolga“ heißt und es sich genau um dieses Auto dreht. Wobei das russische W in der Tat dem lateinischen B entspricht, das G aber nicht einmal dem z. Und irgendwie wäre eine Relativierung, dass es sich um eine erfundene und keine echte Geschichte handelt, auch im Stück nicht ganz fehl am Platz.
So wie die beiden Schauspieler:innen neben schwarz-weiß auch orange Farbstreifen in ihren Kostümen haben (Artemiy Shokin), bekommen im Stück nach und nach auch großformatige neue Comic-Tafeln diese Farbe. Und rechtzeitig zu der – aus bekannten Gründen – mehrfach verschobenen Premiere erschien auch ein gedruckter Comic (Crippa Almqvist, Mo Menzer, Ricaletto) – die Bilder waren Ausgangspunkt für das Stück. Derzeit ist er nur im Theater zu haben (5 €). Neben Schwarz, Weiß und Orange spielt noch dunkles Grün eine wichtige Rolle.
Rund eine Stunde; keine Pause
Text: Stephan Langer
Inszenierung: Rohe Eier 3000
Mit: Lara Sienczak, Florian Tröbinger, Ricaletto
Komposition/Live-Musik: Ricaletto
Bühne: Artemiy Shokin & Ricaletto
Bühnenbild/Zeichnungen: Crippa Almqvist, Ricaletto
Kostüm: Artemiy Shokin
Dramaturgie: Alba Talamo
Produktionsleitung: Sophie Steinbeck
Bis 5. März 2022; jeweils 19.30 Uhr
Werk X-Petersplatz: 1010 Petersplatz 1
Telefon: 01 962 61 10
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