Mediengespräch zu ein Jahr nach dem Bericht der Kindeswohlkommission – in Sachen Asylverfahren. Zwei Dutzend Jus-Studierende analysierten Asyl-Entscheidungen: Kinder werden fast nie gefragt.
Meist erfolgen sie still und heimlich. Die Betroffenen werden aus ihrem Leben gerissen, in sogenannte Heimatländer abgeschoben, die sie höchstens von dem einen oder anderen Verwandtenbesuch in Ferien kennengelernt haben. Wenn überhaupt. Die Sprache können sie auf Familien-Small-Talk-Niveau, oft nicht einmal die Schrift. So passiert bei Ana und Mariam, zweitere hier geboren, erstere mehr als zwei Drittel ihres Lebens in Wien aufgewachsen. So integriert, dass Marcello, einer ihrer Mitschüler:innen in der Mittelschule Kinzerplatz (Wien-Floridsdorf) beim Reporterbesuch nach der Abschiebung erfuhr: „Ich hab geglaubt, sie ist die einzige Österreicherin in der Klasse. Ich bin schon hier geboren, aber die Ana konnte viel besser Deutsch als ich.“ So etwas in der Art steht auch auf einem der Sterne auf dem Plakat, das die Mitschüler:innen angefertigte hatten und mit dem sie aufrütteln wollten, ihre beliebte Mitschülerin und Streitschlichterin zurückhaben zu wollen. „Deutsch ist Anas Muttersprache.“
Rund ein Monat später erregte der Fall einer anderen Abschiebung – ebenfalls nach Georgien – großes mediales Echo. Nicht zuletzt aufgrund der martialischen Art des Vollzugs mit Polizeihunde-Staffel. Die Folge: Auf Betreiben des grünen Vizekanzlers, der damals auch Karenzvertretung für die Justizministerin Alma Zadić war, wurde eine „unabhängige Kommission für den Schutz der Kinderrechte und des Kindeswohls im Asyl- und Fremdenrecht“ mit der Erarbeitung von Vorschlägen beauftragt. Geleitet von der ehemaligen Präsidentin des Obersten Gerichtshofes (und späterer NEOS-Abgeordneten) Irmgard Griss (mit Hedwig Wölfl, Ernst Berger, Hemut Sax und Reinhard Klaushofer).
In dem rund 400-seitigen Bericht, den die Kommission vor genau einem Jahr vorlegte, finden sich elf Empfehlungen für Verbesserunen bzw. überhaupt erst Berücksichtigung des Kindeswohls im Zuge von Asylverfahren und erst recht solchen in denen es um Abschiebungen geht. Ein Jahr danach lud das „Bündnis für Kinderrechte“ am Mittwoch sozusagen zu einem Zwischenbilanz-Mediengespräch. Schon im Vorfeld hatte etwa das Innenministerium gegenüber Medien behauptet, gut die Hälfte der Empfehlungen schon umgesetzt zu haben.
Irmgard Griss, die keine Funktion mehr hat, aber noch immer viele Zuschriften als „Leiterin der Kindeswohlkommission“ bekomme, wie sie bei dem Mediengespräch berichtete, hat sich die Praxis intensiv angeschaut und musste bedauerlicherweise feststellen: „Umgesetzt wurden einzelne Unterpunkte aus den elf Bereichen – konkret drei Unterpunkte – und auch das nicht immer in der von uns vorgeschlagenen Art und Weise.“
Eine Gruppe von 26 Studierenden der „Refugee Law Clinic“ (Rechts-Studierenden, die sich freiwillig studienbegleitend in Praxisfelder vertiefen) hat sich aus dem RechtsInformationsSystem (RIS) Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes innerhalb von sieben Monaten ab dem Stichtag 14. Juli 2021 (ein Tag nach Abgabe des genannten Kommissionsberichts angeschaut. „Wir haben uns insgesamt 183 Entscheidungen intensiv angeschaut und analysiert“, so Sinaida Horvath und Jasmin Enzi, die gemeinsam mit Theresa Zika dieses ehrenamtliche Projekt geleitet haben, zu Kinder I Jugend I Kultur I und mehr … „In diesen Entscheidungen waren 676 Menschen betroffen. Da sie anonymisiert sind, oft nicht einmal Geburtsdaten ersichtlich waren, wissen wir nicht, wie viele Kinder und Jugendliche von diesen Entscheidungen betroffen waren“, so die beiden. Irmgard Griss ergänzt: „Genaue statistische Unterlagen haben wir vor einem Jahr auch gefordert. Die gibt es immer noch nicht.“
„Zusammenfassend besonders positiv ist hervorzuheben“, heißt es in der Analyse der zwei Dutzend Jungjurist:innen, „dass das Kriterium „Kinderspezifische Fluchtgründe“ in 75% aller geprüften Entscheidungen berücksichtigt und angemessen geprüft wurde. So wurde, wenn die Minderjährigen eigene Fluchtgründe hatten, auf diese ausführlich eingegangen und, sofern die Fluchtgründe mit jenen der Eltern ident waren, wurde dies in fast allen Entscheidungen explizit festgestellt.
Auch das Verhältnis zum Herkunftsstaat ist ein Kriterium, welches im Großteil der Fälle in Erkenntnissen behandelt wurde. In fast 40% der Fälle wurden erfreulicherweise sehr detailliert Aspekte, wie das Vorhandensein von Familie/Verwandten und die Lebensverhältnisse im Herkunftsstaat, erörtert.
Ebenso sei hier die „psychische und physische Gesundheit des Kindes“ hervorgehoben. Dieses Kriterium wurde von den Richter:innen in über 70% der analysierten Entscheidungen ausreichend berücksichtigt. Dass in einer Vielzahl der Verfahren die Gesundheit der Minderjährigen erwähnt und einer Prüfung unterzogen wurde, und in der Folge auch ausführlich behandelt und abgewogen wurde, falls es gesundheitliche Probleme gab, ist sehr erfreulich.“
„Im Gegensatz dazu wurde das Kriterium „körperliche und emotionale Entwicklung“ in nur 6,6% der Fälle ausführlich berücksichtigt und fand dafür in 75,8% der analysierten Entscheidungen überhaupt keine Erwähnung. Dies sollte jedenfalls zu denken geben und zukünftig wäre eine vermehrte Einbeziehung dieses Aspekts des Kindeswohls wünschenswert“, heißt es weiter in der Analyse der „Refugee Law Clinic“.
Und was schon die Kindeswohlkommission im Vorjahr als großen Mangel und grundlegenden Fehler konstatiert hat, dass die betreffenden Kinder und Jugendlichen selber kaum zu Wort kommen, bestätigt auch die Analyse der Jus-Studierenden: „Auch die Ergebnisse der Analyse hinsichtlich des Kriteriums „Verfahrensbeteiligung” werfen Fragen auf, da in 63,7% der analysierten Fälle im Entscheidungstext eine erfolgte oder begründet unterlassene Partizipation gar nicht erwähnt wurde. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass Richter:innen die minderjährig Beschwerdeführer:innen in Einzelfällen im Sinne des Kindeswohls bewusst nicht am Verfahren beteiligt haben und dies lediglich nicht explizit im Entscheidungstext angemerkt haben, so ist dieser Anteil dennoch sehr hoch. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Verfahrensbeteiligung Minderjähriger gerade im Asylverfahren so wesentlich von anderen (gerichtlichen) Verfahren abweicht. Im Außerstreitverfahren ist eine Beteiligung beispielsweise bereits ab einem Alter von 10 Jahren vorgesehen, wohingegen in Asylverfahren selbst mündige Minderjährige teilweise nicht die Gelegenheit bekommen, ihren Standpunkt zu ihrer Integrationsleistung und anderen Aspekten dem Gericht darzulegen…
… in den Entscheidungen, die im Rahmen des Projekts berücksichtigt und analysiert werden konnten, (wurde) § 138 ABGB in 93,4% der Fälle gar nicht im Entscheidungstext erwähnt. Da diese privatrechtliche Norm nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH als Orientierungsmaßstab für das Kindeswohl in anderen Verfahren herangezogen werden sollte, ist dieses Ergebnis doch relativ verwunderlich.“
Nicht nur in Fragen von Asylverfahren, sondern generell – und damit für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich – verlangte Irmgard Griss ein „ständiges Kinderrechte-Monitoring“ mit Personal und Ressourcen. Außerdem wäre es angesichts von Fachkräftemangel und demografischer Entwicklung jedenfalls widersinnig, junge Menschen mit abgeschlossener Ausbildung abzuschieben. Weiters wäre es dringend wichtig, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von Tag 1 an eine rechtliche Vertretung bekämen.
Michael Häupl, ehemaliger jahrzehntelanger Wiener Bürgermeister und Präsident der Volkshilfe Wien erhob die Forderung, Kinder, die hier geboren werden und aufwachsen, sollten die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Es sei ein zunehmendes demokratiepolitisches Problem, die Werte parlamentarischer Demokratie zu predigen und jungen Menschen die Teilhabe an dieser zu verwehren. Häupl hält auch nichts vom Auseinanderdividieren von Flüchtlingen – was für Menschen aus der Ukraine gilt, ist auch für jene aus Syrien oder Afghanistan so: Flucht vor Krieg!
Außerdem sprach der Altbürgermeister ein weiteres akutes Problem angesichts der sprunghaft steigenden Teuerung an: Sollen Kinder oder Eltern entscheiden müssen, ob Jause oder Heft kaufen? Das Mittel dagegen wäre eine Kindergrundsicherung als einfache Maßnahme gegen Kinderarmut.
Mit am Podium des Mediengesprächs Anwalt Wilfried Embacher. Er vertrat/vertritt auch die berühmt gewordene Tina, eine der im Vorjahr von der heftigen Abschiebung betroffene Schülerin. Ihre Abschiebung wurde aufgehoben und sie konnte mittlerweile mit einem Schüler:innen-Visum wieder nach Österreich zurückkommen und kann hier ihre Bildung fortsetzen. Aber das bewirkte noch keinen grundsätzlichen Sinneswandel in der Justiz-Praxis. Erst vor wenigen Monaten wurde aus Salzburg der ebenfalls bestens integrierte – medial bekannt gewordene junge Tischtennisspieler Husein nach Aserbeidschan abgeschoben.
Bei den Entscheidungen würde Kindeswohl kaum berücksichtigt, Kinder kaum bis nie gehört und Maxime des juristischen Handelns wäre – so der Anwalt: „Seit Jahrzehnten geht es nicht um finden guter Lösung, sondern um „Abwehr“ und dafür eine juristische Begründung zu suchen. Es geht um Ausgrenzung von Menschen, die nicht dazugehören sollen.“
Ein weiteres Problem bleiben die im Vergleich zu anderen fremduntergebrachten Kindern, niedrigeren Tagsätze für unbegleitete Kinder im Asylverfahren, wo sich ebenso wenig tut, wie bei der Empfehlung für Obsorge ab dem ersten Tag.
Vorgestellt wurde auch die Initiative der Plattform „Gemeinsam für Kinderrechte“, Schutzbriefe für geflüchtete Kinder auszustellen denen die Abschiebung droht und deren Kindeswohl im Verfahren nicht ausreichend berücksichtigt wurde.