Rund um ein modernes Kunstwerk switchen drei Schauspielerinnen in „Fallen“ im Wiener Theater Drachengasse fast ständig zwischen drei Rollen – als Besucher:innen sowie Museums-Guide.
Rund um ein wuchtiges und doch sehr filigranes Kunstwerk, eine Installation, die von der Decke hängt, spielen drei Schauspielerinnen „Fallen“ von Anna Gschnitzer im Wiener Theater Drachengasse (Regie Isabella Sedlak). Sonja Romei, Ingeborg Schwab und Tamara Semzov wechseln ständig ihre Rollen. Anfangs ist die Zweitgenannte Museumswärterin und die beiden anderen werden zu Besucher:innen, die ein Kunstwerk – genau nicht jenes, das so zentral den Raum dominiert, sondern ein imaginäres an der Wand. Dann wieder wird auch Schwab zu einer der jeweils zwei Betrachter:innen.
Gleich zu Beginn wird textlich festgehalten, die Zuschauer:innen mögen die Augen schließen und sich die Szenerie vorstellen, eben zwei Museumsbesucher:innen – die ein Paar sein können oder auch nicht, wobei es Alte, Junge, Männer, Frauen, non-binäre Personen sein können…
Sie agieren – in unterschiedlichen Konstellationen – als wäre das ihre erste Begegnung. Der Fokus wandert dabei von der Betrachtung des nicht vorhandenen Gemäldes auf die andere Person, die sozusagen ge-scannt wird, ob da was laufen könnte. Mal spielt es in der Gegenwart, dann wiederum in der Zukunft mit Rückblick auf die zur Vergangenheit gewordene Gegenwart und wechselt postwenden in die umgekehrte Perspektive. Das Switchen durch Zeit und Raum – begleitet von Musik (Peter Plos) und Videos (Jakob Hütter) – hat allerdings doch einen bildlichen Ausgangspunkt: Das Gemälde „The Slave Ship“ (Originaltitel „Slavers Throwing overboard the Dead and Dying – Typhon coming on“/ Sklavenhändler werfen die Toten und Sterbenden über Bord) des bekannten Künstlers William Turner (aus dem Jahr 1840) in düsteren Farben bei aufkommendem Wirbelsturm zeigt Menschen, die in die Fluten geworfen werden und zum Spielball der enormen Wellen werden.
Als Postkarte wird ein – offenbar von den Originalfarben abweichender Druck dieses Bildes verteilt – mit dem historisch verbürgten Zusammenhang: 1781 beging die Crew des britischen Sklavenschiffes Zong einen Massenmord an 130 Afrikaner:innen. Kranke und Sterbende wurden einfach über Bord geworfen, weil die Versicherung nur für „verlorene Fracht“ zahlte, nicht aber falls Menschen an Bord sterben. „Turners Gemälde fängt den Moment ein, in dem Menschen mit ihrem möglichen, zukünftigen, spekulativen Wert ersetzt werden, indem man sie tötet“, fasst die Autorin von „Fallen“ die Bedeutung des Gemäldes zusammen.
Und damit wird aus dem Spiel des Wechselns von Rollen und Zeiten samt fast ständigem Perspektivenwechsel ein ganz krasses ganz anderes Fallen(lassen) menschlicher Werte. Und nicht nur vor fast 150 Jahren. Wobei das Fallen durch Zeit und Raum einerseits eine Befreiung von vorgefassten Normen und damit Vorurteilen sein könnte. Aber auch – losgelöst von jedweden Wurzeln und Fundamenten auch das Über-Bord-Werfen jedweder Menschlichkeit.
Die in einem fast zerbrechlichen Gleichgewicht schwebende, hängende Installation (Bühne und Kostüme: Sophie Baumgartner) aus Metall-Traversen, Ziegelteilen, Holz, Glas und anderen Materialien könnte ein „Zitat“ aus Baumaterialien der Tate Britain in London sein. Gag am Rande: Ein Teil des „Fallen“-Teams reist zur großen William-Turner-Ausstellung (Oktober 2020 bis September 2021), um das Originalbild „The Slave Ship“ zu sehen. Ausgerechnet das war nicht Teil der großen „Turner and the Modern World“-Schau, sondern blieb im US-amerikanisches Museum of Fine Arts Boston.
von Anna Gschnitzer
1 ¼ Stunden
Regie: Isabella Sedlak
Es spielen: Sonja Romei, Ingeborg Schwab, Tamara Semzov
Bühne, Kostüme: Sophie Baumgartner
Musik: Peter Plos
Video: Jakob Hütter
Regieassistenz: Juliane Aixnera
Dramaturgische Beratung: Sandra Wolf
Maske: Anna-Helen Giese
Rechte bei Felix Bloch Erben Verlag, Berlin
Bis 26. November 2022
Theater Drachengasse: 1010, Fleischmarkt 22/Drachengasse 2
Telefon: 01 513 14 44
theater@drachengasse.at
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