Tänzerinnen und Mundmusiker widmen sich einem viel langfristigerem Problem als der Pandemie, dem Umgang mit dem praktischen Kunststoff, den wir so bald aber nicht los werden.
Drehte sich vor ein paar Wochen bei einer Produktion von „kollektiv kunststoff“ im Wiener WuK (Werkstätten- und Kulturhaus) alles um Holz, so steht die jetzige Spielserie im Dschungel Wien um DEN Kunststoff schlechthin. Den Titel „Plastik im Blut“ dürften sich die Performer*innen von der Autorin Heike Schröder ausgeborgt haben, die 2017 dazu das Sachbuch mit dem Untertitel „Wie wir uns und die Umwelt täglich vergiften“ veröffentlicht hat.
Plastik 1 x 1
Du musst versteh’n!/ aus Eins mach zehn./ Und Zwei lass geh’n,/ und Drei ist gleich,/ so bist du REICH!/ Verlier die Vier, / Aus Fünf und Sechs, / so sagt die Hex -/ mach Sieben und Acht,/ So ist’s vollbracht:/ Plastik MACHT/ Alles Eins
Nach dem Hexen- 1 x 1 in Goethes „Faust“
Schon im März, als Publikum noch nicht ins Theater durfte, Künstler*innen aber natürlich solches produzierten – du kannst ja nicht von heute auf morgen spielen und musst auch proben, wenn (fast) niemand zuschauen darf – durfte ich eine „Geisterpremiere“ auch dieses Stücks erleben. Damals noch für den Kinder-KURIER schrieb ich:
An Handlungsfaden zieht sich die Schilderung eines Versuchs, drei Tage ganz ohne Plastik auszukommen. Die rund 50-minütige Performance (ab 10 Jahren) ist ein Mix, ein Ineinandergreifen und Verknüpfen von Schauspiel & Tanz (Raffaela Gras und Stefanie Sternig), Live-Musik (E-Gitarre und digital: Peter Plos aka Palme) und Beatboxing (die Weltmeisterschafts-Dritten Mouth-o-Matic: Eon, Slizzer, Geo Popoff alias Elias Nasari, Tim Schleiser und Georg Haselböck). Letztere bringen aber nicht nur ihre mundmusikalische Bandbreite fast sämtlicher Stile- und -richtungen zu Gehör, sondern agieren auch schauspielerisch. Vor allem aber bringen sie – nun ja endlich mit Publikum letztres von Anfang an in Stimmung und Schwingung.
Das Experiment – drei Tage ohne Plastik – natürlich im Zeitraffer erzählt – scheitert schon daran, dass der Boden aus Kunststoff ist. Was also tun nach dem Aufstehen? Einen solchen Untergrund zu „überwinden“ wird zu einer Kombi aus Tanz und Akrobatik – eine nicht nur in dieser Szene gezeigte Methode.
Natürlich stellt sich bald heraus, es braucht doch Ausnahmen, um durch den Alltag zu kommen. Aber wenigstens Denkanstöße will die Gruppe mit ihrer Performance vermitteln, die nach kurzen atmosphärischem Vogelgezwitscher und leisen Tönen mit fetziger Musik und zum Mitmachen motivierenden Songs der drei Beatboxer beginnt. Manchmal wirkt das Anliegen ein bisschen zu lehrhaft.
Plastik ist aber nicht nur das Thema. Aus Kunststoff sind viele der Requisiten, Kostümteile und vor allem auch die zentrale riesige Plane. Diese überspannt anfangs fast die gesamte Bühne sozusagen wie ein Himmel. Sie wird später immer weiter runtergelassen womit sie den Spielraum der Agierenden darunter stetig mehr und mehr einengt. Bis die Mitwirkenden auf der Bühne nur mehr über wenige Schlitze in der Plane Kopf, Hände oder Füße – immer nur jeweils den einen oder anderen Körperteil – zum Vorschein bringen können.
Zukunft ist wichtig!/ Uns nicht egal./ Sind wir noch zu retten?/ Wo bleibt die Moral?/ Überall. Vollgestopft. Plastikschund./ Lebe ich lieber kerngesund!/ Zur Effizienz reduzieren/ Wann wird der Mensch sich selbst kapieren!
Refrain: We´d love to change the world/ but I don´t know what to do!/ but I don´t know what to do!
Aus Plastik-Protest-Song aus „Plastik im Blut“, dem Stück
Wie zu erwarten kommt irgendwann die Rede auf die mittlerweile weltberühmte große Plastikmüll-Insel (The Great Pacific Garbage Patch, 20 Mal so groß wie Österreich oder mehr als 250 Millionen Fußballfelder). Vielmehr mittlerweile mehrerer solcher in den Weltmeeren. Die bilden aufgrund der Meeresströmungen große Wirbel. Das wird „plastisch“ dargestellt, indem eine der Performerinnen in der Mitte der großen Plane stehend, von den anderen, die an den Ecken ziehen, umhergewirbelt wird – bis sie in der Kunststoff-Folie völlig eingewickelt ist.
Immer wieder beeindruckendes Experiment – die sogenannte „Elefanten-Zanpasta“, gleichsam Chemie-Unterricht im Stück: In der Röhre ist schon flüssiges Putzmittel – von links und rechts werden eine 35%ige Wasserstoffperoxid- sowie eine Kaliumiodid-/Wasser-Lösung geschüttet – in Sekundenbruchteilen bildet sich dicker Schaum
Die Plastikelemente, die in der Performance verwendet werden, sind aus Kunststoffen, die schon recycelt wurden oder aus Restmaterialien wie beispielsweise kaputten Zelten. „Die große Plane (von der oben die Schreibe ist) wurde gekauft, da sie den veranstaltungsgesetzlichen Regelungen entsprechen muss. Die Plane werden wir am Ende zu Taschen verarbeiten, um diese nochmals neu aufzuwerten und um ihren Kreislauf bewusst zu verlängern“, heißt es im Programmzettel von „kollektiv kunststoff“ – dessen Name bei dieser Produktion über die ursprünglich „nur“ auf Kunst bezogene Bedeutung hinausgeht.
Auch wenn derzeit noch immer von der aktuellen Virus-Welle überdeckt, sind andere – auch weltweite – Krisen nicht verschwunden. Vor manchen verschließen die meisten – trotz drastischer Bilder und Berichte – die Augen, Ohren und Herzen – Stichwort Moria, das elendigliche Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos. Eine andere Krise, vor der Wissenschafter_innen seit Jahrzehnten warnen, wurde vor allem erst durch das Engagement Jugendlicher im vergangenen Jahr in der Öffentlichkeit massiv bewusst: Klimaerwärmung sowie Umweltverschmutzung.
Vielleicht könnte in Sachen wichtiger, dringender Maßnahmen gegen die Zerstörung des Planeten wenigstens ein bisschen Anleihe bei der Krankheitskrise genommen werden: Rasch zu handeln und nötiges Geld locker zu machen.
kollektiv kunststoff
Performance/Beatboxing; ab 10 Jahren; 50 Minuten
Konzept, Choreografie: Stefanie Sternig
Choreografische Mitarbeit, Performance: Raffaela Gras, Stefanie Sternig und Beatboxkollektiv „Mouth-O-Matic“: (Eon, Slizzer, Geo Popoff alias Elias Nasari, Tim Schleiser und Georg Haselböck)
Komposition, Sound: Peter Plos, „Mouth-O-Matic“
Bühne, Kostüm: Sophie Baumgartner, Jo Plos
Dramaturgische Beratung: Leonie Humitsch
Lichtdesign: Christo Novak
Bis 1. Juli 2021
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: 01 522 07 20-20
Dschungel Wien