Nach 50 Jahren versucht sich das Wiener Freud-Museum zum ersten Mal an Kinder anzunähern. Vorerst zehn Hörstationen.
Im ersten Stock des Museums, das ein ganzes altes Haus samt seinen ehemaligen Wohnungen und seelen-ärztlichen Ordinationen ist, steht in der Mitte auf dem Gang ein weißes hölzernes Gestell mit einer großen kartonbox drauf, linke Hälfte orangefarben, rechte grün. Die Deckel lassen sich aufklappen. Ein Drückknopf – und eine Stimme geht los. In der linken Box ein Gedicht auf Deutsch, rechts die Nachdichtung auf Englisch.
Diese erste von zehn Hör-Stationen steht vor einer Entscheidungsfrage: Links in die ehemalige Wohnung von Familie Freud, rechts in die Praxis des Psychoanalytikers. Damit beginnt auch das Gedicht. Um aber in wenigen Zeilen gleich noch jenen großen Kosmos zu eröffnen, den Sigmund Freud – vor mehr als 100 Jahren – neu entwickelt hat: „… oder geradeaus/ durch die Wand/ ins Freud-/ Traumland“.
Seelische – und damit oft auch verbundene körperliche – Schmerzen zu behandeln, indem Patient:innen über alles Mögliche, das sie bewegt – direkt angesprochen Ängste, Sehnsüchte, Begierden, Fantasien oder eben auch Träume zu reden. Einen großen Stellenwert nahm/nimmt dabei die jeweils eigene Kindheit ein. Noch stärker durch Anna Freud, eines der sechs Kinder Sigmunds und seiner Ehefrau Martha. Anna Freud hatte ebenfalls in der Berggasse 19 (dem Freud-Haus und seit 1971 Museum, 2020 umfangreich renoviert) ihre Praxis. Das Museum, dessen Raumaufteilung geblieben ist – mit Ausnahme einer im Zuge der Renovierung errichteten Notflucht-Stiege – beherbergt einige wenige Original-Möbel, vor allem aber private Gegenstände sowie Bücher – in den unterschiedlichsten Sprachen in denen Freuds Werke übersetzt worden sind.
wäre ich ein chow chow
wäre
Michael Hammerschmid, eines der zwölf Gedichte für das Freud-Museum
ich ein chow chow
im
herrenzimmer
mit
dem runden
tisch
kann man
gut
dösen friedlich
bin
ich die gäste
nein
die stören mich
nicht
und auf der
veranda
gibt es licht
und
luft und
sonnenduft
und
bei anna sitzt
wolf,
der schäferhund
nein
nein kein streit
und
bei paula
vor
der küche steht
immer
was
für
mich bereit
am
besten schläft man
nämlich ich bei sigmund
freud
wenn er zuhört
hinter
der couch oder
beim
schreibtisch
nachts
zwischen
papieren
und büchern
wenn
er durch graulen
meine
ohren erfreut
Obwohl Kindheit in der Psychoanalyse eine ganz große Rolle spielt, ist es nun – nach 50 Jahren – das erste Mal, dass sich das Museum auch für Kinder ( 5 bis 12 Jahre) öffnet. Und das kam eher zufällig – über die Begegnung mit dem Autor Michael Hammerschmid, der Gedichte für Kinder schreibt. „Ich hab dann in der Corona-zeit das Glück gehabt, oft lange allein in den Museumsräumen verbringen zu können“, verrät der Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … So ließ er die jeweiligen Räume, Gegenstände (etwa sein Reisekoffer oder Montessori-Spielzeug aus Anna Freuds Kindergarten), Geschichten und Erzählungen dazu auf sich wirken und baute daraus seine Gedichte.
Mit so manchen seiner knappen Zeilen, die dann doch eine große Welt eröffnen (können), möchte der Autor die jungen Besucherinnen und Besucher ermuntern, sich selbst in der jeweiligen Umgebung eigene (Traum-)Bilder vom möglichen Geschehen im jeweiligen Raum zu machen. Oder sich beispielsweise in einen Hund hineinzudenken, einen Chow-Chow. Einen solchen hatte Sigmund Freud von seiner Tochter Anna geschenkt bekommen und den hatte er auch immer dabei, wenn seine Patient:innen bei ihm auf der Couch lagen.
Dieses Gedicht (das wir – genehmigt vom Autor und dem Museum – hier veröffentlichen dürfen) hat der 14-jährigen Amélie und ihrem Bruder Ruben (10) „am besten gefallen, weil wir selber Hunde gerne mögen. Wir haben auch schon früher einen gehabt und bekommen hoffentlich wieder einen“, sagen sie dem Reporter. Beide sowie auch die meisten anderen Kinder, die bei der allerersten Kinderführung im Freud-Museum dieser Tage dabei waren, fanden den Zugang über diese Gedichte „ganz spannend, weil sie einen Bezug zum jeweiligen Raum herstellen, aber viel frei lassen, um sich eigene Bilder und Gedanken machen zu können“. Wobei sich insbesondere die 14-Jährige schon zu Beginn sehr verwundert zeigte, „dass wir bis jetzt in der Schule noch nie was von Freud gehört haben“. Immerhin besucht sie mit der vierten Klasse Gymnasium bereits das mittlerweile achte Schuljahr.
Einige fanden vor allem spannend, dass bei jeder der zehn Hörstationen ein Pickerl gesammelt werden kann, das auf das jeweilige Feld – Stiegenhaus, vor-, Schlaf-, Behandlungszimmer … – geklebt wird – und sich am Ende ein Bild ergibt. Welches – das sei hier sicher nicht verraten.
Allerdings bedauern praktisch alle, „dass es leider viel, viel zu leise und damit nur schwer zu verstehen ist“, wobei die englische Version – übersetzt/nachgedichtet von Peter Waugh – noch ein bisschen lauter klingt. Hier versprachen die beiden Museumsleiterinnen Monika Pessler (Direktorin) und Daniela Finzi (wissenschaftliche Leiterin), möglichst bald dafür zu sorgen, dass die – von Autor und Übersetzer selbst eingesprochenen – Gedichte gut hörbar werden, auch wenn mehrere Menschen gleichzeitig im jeweiligen Raum sind und es damit einen gewissen Geräuschpegel gibt.
Eng, verwinkelt, ziemlich dunkel. Auch dieser Art „Abstellkammer“, genannt Durchgangsraum widmete der Autor ein Gedicht – vor allem aber seiner Bewohnerin. Genau. Hier lebte und von hier aus arbeitete Paula Fichtl, Haushälterin der Freuds. „… schau/ wo das/ klappbett/ platz hat …“
Im bei der Renovierung neu gebauten Stiegenhaus – als notwendiger Fluchtweg von Veranstaltungsräumen – wurden – wie auch an anderen Stellen – originale Teile der Mauern freigelegt und eben nicht neu verputzt. Hier noch mit einer besonderen Bedeutung. Es sollte mit den freigelegten Schichten auch Blicke auf die Vergangenheit eröffnet werden. Nachdem Anna Freud von der geheimen politischen Polizei der Nazis 1938 für einige Stunden verhaftet worden war, wurde es Zeit, schnellstmöglich Wien vor der Verfolgung von Jüdinnen und Juden zu verlassen. Ein Teil der Familie konnte mit großem Gepäck nach London flüchten, andere Familienmitglieder schafften das nicht mehr und wurden in Konzentrationslagern ermordet.
Das Haus in der Berggasse wurde zu Sammelwohnungen, in denen Jüd:innen kurzfristig eingesperrt wurden bevor die Nazis sie in Konzentrationslager verfrachteten. Die Namen von 76 Menschen, die hier vorübergehend festgehalten worden waren, sind auf den Wänden aufgelistet. Das Gedicht dazu beginnt so: „die/ wände sollen/ sprechen/ der/ boden sollte schreien…“
Mehr als die zehn Hörstationen mit insgesamt zwölf Gedichten von Michael Hammerschmid und in der englischen Version von Peter Waugh gibt es vorerst im Freudmuseum für Kinder (noch) nicht. Es werde an eigenen Vermittlungsformaten gearbeitet, heißt es von der Museumsleitung auf die Frage von Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr …
Dabei gäbe es so manches. Ziemlich genial spannt die Direktorin Monika Pessler den Bogen von einem Original-Möbelstück, einem Spiegelschrank, zu einem der psychoanalytischen Grundsätze/ Erkenntnisse. Hier haben sich die Kinder oft unten versteckt und als Sigmund Freud das hin und wieder beobachtete, hat er entdeckt: Als Ganzes kannst du dich selbst nur im Spiegel sehen, sonst siehst du immer nur einen Teil von dir. Der Blick von außen – in der Psychoanalyse sozusagen auch noch dazu professionell – kann also ganz schön gut helfen, sich selbst zu erkennen 😉
Vielleicht ist dieses Neuland im Umgang mit Kindern auch Grund für den doch nicht ganz feinen Titel des „Kindervermittlungsprogramms für 5- bis 12-Jährige“: Freud für „kleine Fratzen“. So hatte Sigmund Freud Kinder in einem Brief an Wilhelm Fließ sie bezeichnet. Das war allerdings vor fast 130 Jahren! (24. Juli 1893). Auch wenn manche „Fratzen“ oft mit süß davor denken, wertschätzend ist er sehr oft nicht gemeint.
Kindervermittlungsprogramm für 5- bis 12-Jährige
Zwölf kindergerechte Gedichte von Michael Hammerschmid (auf Englisch: Peter Waugh)
Plan über zehn Räume mit Feldern für Klebesticker als Hilfe bei der „Spurensuche“
*Sigmund Freud an Wilhelm Fließ in einem Brief vom 24. Juli 1893.
Wann & wo?
Mittwochbis sonntag
10 bis 18 Uhr
Freud-Museum
1090, Berggasse 19
Keine Zusatzkosten zum Ticket für erwachsene Begleitpersonen
Gruppen (ab 10 Menschen) werden um Voranmeldung gebeten:
Telefon: 01 319 15 96 – 11
fuehrungen@freud-museum.at