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Szenenfoto aus "Die Ärztin" im Wiener Burgtheater
Szenenfoto aus "Die Ärztin" im Wiener Burgtheater
09.01.2022

Brücken in „Glaubens“kriegen zwischen Wissenschaft, Religion, Gesinnung, Identitätsdebatte

„Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater: Bereichernde Überschreibung von Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ durch Robert Icke (Übersetzung Christina Schlögl) und ein cross-besetztes diverses Ensemble – mit vielen Aha-Erlebnissen.

Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ wurde in seinem Entstehungsjahr 1912 in Wien verboten, die Uraufführung musste nach Berlin ausweichen und konnte erst nach dem 1. Weltkrieg in Wien gespielt werden. Die beiden zentralen Grundelemente haben von ihrer Brisanz nicht wirklich verloren. Doch die nun im Burgtheater laufende „Überschreibung“ bereichert den Konflikt medizinische Wissenschaft contra Glauben sowie religiöse und weltanschauliche Diskriminierung noch um weitere Schichten, Konflikte, aktuellste Themen, vor allem verschiedenste Identitäts-Zuschreibungen.

Der Plot

Die Grundgeschichte: 14-jähriges Mädchen aus bigottem Elternhaus kann dort die eigene Schwangerschaft nicht „beichten“, versucht abzutreiben, kommt mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus und stirbt letztlich an einer Sepsis (verkürzt ausgedrückt: Blutvergiftung). Die Eltern schicken von unterwegs einen Priester ins Spital für die letzte Ölung. Bei Schnitzler der behandelnde, verantwortliche Arzt (Bernhardi), in der Fassung des Briten Robert Icke (Übersetzung: Christina Schlögl) die Institutsleiterin Ruth Wolff wollen die Patientin nicht aufregen, die Todgeweihte friedlich entschlummern lassen. Der Geistliche als Zeichen ihres offensichtlichen nahenden Todes würde ihr jede Hoffnung nehmen und sie aufwühlen. Auch Wahrheit oder (Not-)Lüge wird thematisiert.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Diskriminierungen

Zweite für Schnitzler, der selbst ausgebildeter Arzt war, aber vielleicht noch wichtigere Konfliktlinie: Bernhardi ist Jude, ein antisemitisches Kesseltreiben gegen ihn setzt ein. Der Stellvertreter schlägt bei einer bevorstehenden Besetzung in der Klinik vor, einen weithin als Christ bekannten Arzt zu nehmen. Bernhardi will aber den besser Qualifizierten, jenseits des Glaubensbekenntnisses. Das spielt sich so auch für Ruth Wolff ab, die noch viel strikter „mehr Ärztin als Mensch“ ist, tough, der Wissenschaft verpflichtet, über(aus) korrekt, sogar Sprachpolizistin. Und sich jeder Gruppen-Zuschreibung verwehrend, irgendwie sehr kalt (und in all dem überzeugend: Sophie von Kessel).

Kaum weniger kalt wirkt die Spitzenärztin übrigens in ihrer Wohnung – das selbe Ambiente, manchmal überlagern sich die Schauplätze sogar. Ihre Partnerin Charlie (Sandra Selimović) bemüht sich um Ruth, zieht sich fast ungeliebt eher still zurück und scheidet am Ende aus dem Leben. Das Vertrauen des (Nachbars-)Kindes Sami (Maresi Riegner, mitunter frisch-frech), wird von Prof. Wolff in der TV-Konfrontation (siehe weiter unten) massiv gebrochen, indem sie das als Junge geborene Mädchen outet wie ihr kleines privates Projekt.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Der Kern bleibt, verändert

Die beiden beschriebenen Brüche aus dem Original belässt Autor und Regisseur Robert Icke (Uraufführung im englischen Original 2019 im Almeida-Theater am Rande Londons). Wie schon mehrfach erwähnt, macht er nur aus Bernhardi eine Frau – auch über Geburt Jüdin, säkular, also nicht gläubig. Der katholische Priester soll als Schwarzer gelesen werden, gespielt von einem Weißen: Philipp Hauß, der – spannendes Zusammentreffen – auch den (weißen) Vater der dann schon verstorbenen Patientin spielt.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Phantastische Percussion

Genau dieses Spiel der sogenannten „Crossing“-Besetzungen – Frauen spielen Männer und umgekehrt, Weiße in Schwarz gelesene Rollen ganz ohne jeden Anflug von Blackfacing genauso wie Schwarze als weiße Figuren auf der Bühne agieren, durchzieht diese Fassung wie ein unsichtbares Netzwerk roter Fäden. Gespielt wird auf einer Bühne, adaptiert vom englischen Original (Hildegard Bechtler), die aus mehr oder minder einem langen Konferenztisch besteht, der sich mit den Schauspieler:innen auf der Drehbühne sehr häufig in Bewegung findet. Umgrenzt von einer halbrunden, fensterlosen, mauerartigen Wand – mit nur fallweise sich öffnenden drei Türen.

Als Highlight thront mittig ein durchsichtiger Kubus über der Mauer, „bewohnt“ von einer Schlagwerkerin (abwechselnd bei den Aufführungen: Teresa Müllner und Maria Petrova). Die jeweilige Musikerin spielt durchgängig – auch die ganze Pause durch bis zum Schluss-Applaus und damit gute 2 ¾ Stunden. Manchmal untermalend, dann wieder in heftigen Konfliktsituationen diese noch verstärkend oder eher ausdrückend, was verbal vielleicht trotz sehr vieler Wort(gefecht)e offen bleibt.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

TV-Tribunal

Neben den (heftigen) Debatten in der Klinik spielt sich vor allem ein Tribunal über „BW – Böser Wolf“ in Form einer TV-Diskussion ab, bei der u.a. Ton-Aufzeichnungen von der Auseinandersetzung vor dem Krankenzimmer eingespielt werden. Vor allem aber wird die – mit dem Rücken zum Publikum sitzende, ihr Gesicht in Großaufnahme zweifach links und rechts in den Wandbogen projizierte Ruth Wolff von den fünf „Diskutant:innen“ aus allen Richtungen verbal abgewatscht. Die nur mit Nummern genannten Studio-Gäst:innen sind der Reihe nach: Ein politischer Pastor; eine Medizinethikerin, Anwältin und Abtreibungsgegnerin; eine Dozentin für jüdische Geschichte und Kulturwissenschaft; ein akademischer Autor und Aktivist mit dem Schwerpunkt postkoloniale Theorie sowie eine führende Forscherin in Sachen unbewusster Vorurteile , die auch eine entsprechende Aktionsgruppe zu deren Bekämpfung leitet.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Selbstgerecht

Tapfer verteidigt sich die Angegriffene – fast wie in einem Live-Shitstorm auf Social Media, agiert allerdings doch recht selbstgerecht „Im Ring“ (so der Titel des TV-Formats). Auch nur ihre eigene Perspektive sehend, und damit die einer weißen Privilegierten. Denn, so „Fünf“ (Melani Sidhu, die auch den Assistenzart Juniorspielt und noch Schauspielstudentin ist), andere Menschen könnten nicht so leicht sagen, keinerlei Gruppe oder Schublade anzugehören, wenn sie tagtäglich etwa Alltagsrassismus erleben.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Wer darf was?

Die gesellschaftliche Diskussion um Zuordnungen zu Gruppen spielen in „Die Ärztin“ eine große Rolle – einerseits werden sie immer wieder angesprochen, auch in der stets aufflammenden Frage, wer was darf, wenn spielen, wen übersetzen, wen behandeln.

Bless Amada in der Rolle des Arztes Michael Copley (er spielt auch Nummer 1 in der TV-Debatte) versucht höchst engagiert Ruth Wolff von ihrem Rücktritt als Leiterin des Alzheimer-Behandlungs- und Forschungs-Instituts zurückzuhalten: „Wenn wir diese Frau durch diese Tür gehen lassen, erlauben wir, dass ein Gift eindringt, das die Medizin für viele Jahre verderben könnte … wenn wir sie zu irgendetwas anderem machen lassen, als zu einer Ärztin, wenn wir zulassen, dass Biographie ins Spiel kommt, wenn unsere Identitäten, die Identitäten von Ärzten wichtig werden, dann müssen wir uns im Klaren darüber sein, was das bedeutet, denn das hieße jüdische Ärzte für jüdische Patienten und fette Ärzte für fette Patienten …“.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Aha-Erlebnisse

Und andererseits schafft diese Inszenierung mit einem bewusst sehr divers besetzten Ensemble, viele davon erstmals auf der Bühne des großen Burgtheaters, und vor allem den schon oben erwähnten Cross-Besetzungen auch so manches „Aha“-Erlebnis im Publikum. Dass Frauen Männer und umgekehrt spielen, kann schon in der Besetzungsliste des – mit spannenden inhaltlichen Beiträgen ausgestatteten Programmhefts gelesen werden.

Dass Weiße Schwarze spielen gab’s schon länger am Theater, wurde – nicht ganz zu Unrecht – immer wieder kritisiert, weil’s auch genug Schauspieler:innen dunkler Hautfarbe gibt. Aber hier spielen ja auch umgekehrt Schwarze Rollen Weißer, was sich mitunter nur aus einer Nebenbemerkung ergibt wie vor allem bei der großartigen Stacyian Jackson als karrierebewusster Gesundheitsministerin Jemima Flint (übrigens der einzige (Nach-)Name der gleich ist wie bei Schnitzler, dort „natürlich“ ein Mann). Sie, die Wollf noch aus ihrer eigenen Assistenzärztinnen-Zeit kennt, bewundert und gefördert hat, findet nun so manch „übergeordneten“ Grund, sich gegen Wolff und auf die Seite der Shit-Stürmer:innen zu stellen.

Im Grund genommen versucht das Burgtheater in dieser Icke-Inszenierung mit den kunterbunten Besetzungen das Recht des Theaters zurückzuholen, jede und jeder darf in alle möglichen Rollen schlüpfen. Es hat ja – zum Glück – auch noch niemand verlangt, nur tatsächliche Mörder:innen dürften mordende Bühnenfiguren spielen.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Bereicherungen

Obwohl im Vorfeld so manche meinten, Schnitzlers „Professor Bernhardi“ brauche sicher keine „Überschreibung“, so deutlich zeigt der (manchmal zu) dichte Abend mitunter recht lautstarker, gleichzeitiger Debattenbeiträge – was vielleicht aber die Diskussionsunkultur (un-)sozialer Medien widerspiegelt – wie aktuell die Grundthemen des Originals sind, aber sicher nicht die heutige Wirklichkeit beschreiben. Eine ausschließlich männliche Ärzteschaft würde einer heutigen Krankenanstalt ebenso wenig gerecht werden wie eine rein weiße, einsprachige.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Schritte zur Normalität?

Vielleicht, ja eher hoffentlich, wird die Diversität, die im Gesundheitswesen – wenngleich noch immer nicht in den Leitungsebenen – gang und gäbe ist, auch auf großen Bühnen so normal sein wie in dieser Burgtheater-Inszenierung. Dann würde Zeynep Buyraç als nüchterne Darstellerin des farblosen, intriganten Stellvertreters von Ruth Wolff, Professor Roger Hardiman, der immer offener am Sessel seiner Vorgesetzten sägt, sowie als TV-Diskutantin Nummer 2 (Anwältin, Medizinethikerin, Abtreibungsgegnerin) vorgestellt und nicht wie in etlichen Medien als „erste Türkin am Burgtheater“ und genau auf die ethnischen Hintergründe reduziert, ohne auch nur ihre aktuelle Rolle zu nennen. Dabei hat die in Istanbul Geborene mittlerweile fast so viel Zeit in Wien wie in ihrer Geburtsstadt verbracht, an Theatern von Wien bis Bregenz, München und Regensburg und in diversen ORF-Serien gespielt.

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Szenenfoto aus „Die Ärztin“ im Wiener Burgtheater …

Impfdiskurs

Nicht zuletzt hat natürlich die Front-verhärtete Debatte ums Impfen die Aktualität eines Stranges der Schnitzler‘schen Überschreibung durch Icke befeuert, wenn etwa der Hardiman meint: „Die Presse liebt Stories über Ethik in der Medizin, unser Institut hat Geld, wir geben also eine gute Zielscheibe ab – Wissenschaft gegen Glauben. …“ Und sein auch schon genannter Kollege Copley antwortet: „Exakt, Menschen, die lieber sterben würden, als technischen Fortschritt anzunehmen – Menschen, die sich vor jeder neuen Idee fürchten, worauf ich nur sagen kann: „Sterbt ruhig, wenn ihr wollt, aber meine Kinder werden geimpft.“ Unversöhnlich, kein Schritt aufeinander zu.

Dabei läge das Verbindende so nah. „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“, zitiert Kwame Anthony Appiah, Philosophie- und Jus-Professor an der New York University und Ethik-Kolumnist im New York Times Magazine, den römischen Komödiendichter Publius Terentius Afer. Dieser war einst Sklave aus dem römischen Afrika (Karthago) und wurde zu einem der berühmtesten römischen Komödiendichter. Erlebte vor rund 2.200 Jahren!

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Die Ärztin

Robert Icke – sehr frei nach „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler
Deutsch von Christina Schlögl

Regie: Robert Icke

Cast
Prof. Ruth Wolff: Sophie von Kessel
Charlie: Sandra Selimović
Dr. Paul Murphy/Drei: Gunther Eckes
Junior/Fünf: Melanie Sidhu
Prof. Roger Hardiman/Zwei: Zeynep Buyraç
Dr. Michael Copley/Eins: Bless Amada
Pfarrer/Vater: Philipp Hauß
Prof. Brian Cyprian/Vier: Ernest Allan Hausmann
Sami: Maresi Riegner
Rebecca Roberts/Moderator: Bardo Böhlefeld
Jemima Flint, Gesundheitsministerin: Stacyian Jackson

Schlagwerk: Teresa Müllner/Maria Petrova
Live-Kamera: Tobias Jonas

Bühne und Kostüm: Hildegard Bechtler
Sounddesign: Rom Gibbons
Lichtdesign: Natasha Chivers
Licht: Hector Murray
Ton: Johnny Edwards
Dramaturgie: Anika Steinhoff
Künstlerische Produktionsleitung: Thyl Hanscho

Mitarbeit Kostüm: Maria-Lena Poindl
Kostüm-Assistenz: Lilly Evita Miklautz
Kostüm-Hospitanz: Anna Piecek
Regie-Hospitanz: Kajetan Popanda
Stimmtraining: Almuth Hattwich
Dolmetscher: Thomas Küchenberg
Inspizienz: Dagmar Zach
Soufflage: Evelin Stingl
Produktionsbetreuung Bühne: Jura Gröschl

Wann & wo?

4., 8., 21. Februar 2022
Burgtheater: 1010, Universitätsring 2
Telefon: 0 1 51444 4140
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