Proben- und Setbesuche bei „Bibi Sara Kali“: Ein filmisches Stück bzw. ein theatraler Film über und mit Roma; sowie über Herkunft und Pendeln zwischen mehreren Kulturen.
Fast wie ein lebendig gewordener Geist kommt die Dragoslava auf Melisa zu. In der Hand den Kolać, einen bedeutungsschwangeren runden Kuchen. Sie solle ihn doch nehmen. Irgendwie versucht Melisa vor dem Kuchen – und der mit ihm untrennlich verbundenen Verantwortung zu fliehen.
In einem engen mit Spiegel und Leuchten ausgestatteten Kammerl, einer Garderobe, in den Bühnen-Nebenräumen von Werk X Petersplatz wird diese Szene gedreht. Gleich nebenan zwischen Kabeln, Garderobenständern und viel anderem Zeugs vor einer Batterie von metallenen Garderobenkästen fallen immer wieder die Klappen zu einer Streitszene des Ehepaares Snežana und Taiye. „Du verstehst das nicht!“, schmettert sie ihm entgegen.
Unverständnis, Staunen, Streit über das und jenes – trotz Ernstes immer wieder geplant unfreiwillig humorvoll – zieht sich durch „Bibi Sara Kali“ (Art Schutzpatronin von Romnja) – einen theatralen Film bzw. ein Stück gefilmtes Theater. Mitte Juni (2021) hat der Film – vom Werk X Petersplatz aus – Premiere. Ursprünglich als Theaterstück geplant, durch die Lockdowns verunmöglicht, entschieden sich die Beteiligten, vor allem die federführend agierenden Schwestern Sandra und Simonida Selimović mit Regisseurin Nina Kusturica für die Film-Variante. Einige Theaterszenen werden gefilmt, anderes wurde gleich als Filmszenen inszeniert. Und das passt insofern gut, als die Geschichte auf zwei Ebenen spielt, einer sozusagen realistischen und einer Art Traum-Sequenzen.
Zunächst einmal die Story: Jelena ist in ihren Herkunfts- für sie auch Heimatort Boljevac (in Serbien) gefahren, wo alljährlich das große, traditionelle Roma-Fest Bibjako Djive (Tag der Tante), der regionalen Variante des Fests für Bibi Sara Kali, stattfindet. Dort stirbt sie, was sie höchstwahrscheinlich auch ahnte. Ihre drei Töchter Melisa, Tanja und Snežana, zum Großteil in Wien aufgewachsen, stehen nun vor dem Problem, sich bei der Fahrt mit dem Bus aus Erdberg nach Boljevac irgendwie die Roma-Bräuche rund um das Begräbnis anzueignen, immerhin sind sie als ihre Tochter dafür zuständig. Doch diese sind ihnen sowas von fremd. Von denen wissen sei ebenso wenig wie eigentlich von ihrer Mutter.
Immer wieder geraten sie in witzig ausartende Streits darüber, wie ihre Mutter so war – oder auch die eigenen Kindheitserinnerungen. In einer Impro-Szene bei einer der Proben, die Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … besuchen durfte. Neben dem Kolać spielt auch eine Schüssel voller Zucker eine Rolle. Auf der Oberfläche soll es Zeichen der/des Verstorbenen zu sehen geben – letzte Botschaft. Vom Kussmund bis zur Katzenpfote interpretieren die Töchter.
Katze?
Sie hasste Katzen.
Was wir hatten doch eine als ich klein war.
Das war nur ein Kuscheltier. …
Das war „nur“ eine spontane Improvisation – aber herrlich und fast typisch wie Ibrahim Amir, Co-Autor seine bisherigen Stücke baut. Da er hauptberuflich Arzt ist und klarerweise im vergangenen Jahr vorrangig anderes zu tun hatte, lag die Schreibarbeit mehr an Co-Autorin Simonida Selimović.
Übrigens: Von wegen mehrere Ebenen – „Bibi Sara Kali“ wurde von den beiden Selimović-Schwestern und dem vor Jahren gegründeten Theaterverein Romano Svato von vornherein auch mehrsprachig konzipiert – auf Deutsch und Romanes. Die beiden beherrschen die Sprache der Roma – sowie Sinti und weiterer Gruppen, jeweils auch durch die regionalen Umgebungssprachen stark mit beeinflusst.
Nina Kusturica, Regisseurin, die vom Film kommt, checkt auf einem Kontroll-Monitor bis ins kleineste Detail, ob die Kamera-Einstellungen passen, achtet auch darauf, dass unten im Bild genug Platz bleibt für Untertitel. Kamerafrau Marie Zahier zaubert selbst unter den engsten räumlichen Verhältnissen große Bilder.
Die Frage der Kenntnis von Roma-Bräuchen spielt daher im Stück auch nicht nur eine scheinbar folkloristische Rolle, sondern wird auch zur tiefen Auseinandersetzung um das Bekenntnis zur Volksgruppe zwischen den drei Schwestern auf der Fahrt in die Heimat der Eltern.
Und die beiden suchten Mitwirkende, die Romanes können. Mit der Laiendarstellerin Radmila Savić fanden sie ein Talent – zumindest was der Reporter beim Dreh im Werk X am Petersplatz sehen konnte. Und „ich bin aus Boljevac“, vertraut sie Kinder I Jugend I Kultur I und mehr … beim Set-Besuch an. „Ich hab auch den Kolać gebacken, ich weiß, wie das geht. Ich kenne das!“der
Für die Musik des Films sorgt Adrian Coriolan Gaspar. Über ihn durfte ich – damals noch für den Kinder-KURIER – vor viiiielen Jahren den ersten Bericht schreiben, als er als 16-Jähriger gemeinsam mit Freunden seine erste Band „Gipsy Diamonds“ gründete, später mit seiner Big-Band – 32 junge Musiker*innen mit Balkan-Jazz – und viele andere Auftritte und Projekte, etwa das JuniOrchestra, in dem er junge Roma aus Rumänien förderte. Immer wieder sagte er mir, „mein Ziel ist, einmal Filmmusik zu komponieren“ – was hiermit die erste Erfüllung gefunden hat.
Ein Stück von Ibrahim Amir & Simonida Selimović
Eine Produktion von Romano Svato in Kooperation mit WERK X-Petersplatz
Konzept & künstlerische Leitung: Simonida Selimović
Regie: Nina Kusturica
Es spielen:
Taiye, Snežanas Ehemann: Ayo Aloba
Tanja: Ivana Nikolić
Jelena: Ljubnka Nikolić
Dragoslava: Radmila Savić
Melisa: Sandra Selimović
Snežana: Simonida Selimović
Cousin Marco: Zlatomir Vasić
Bühne und Kostüme: Mira König
Musik: Adrian Coriolan Gaspar
Dramaturgie: Veronika Maurer
Kamera: Marie Zahir
Licht/Projektion: Marie Zahir, Martin Siemann
Ton: Andreas Pils
Schnitt: Stefan Fauland
Regie-Assistenz: Stella Jarisch
Equipment: Michael Schindegger, Nina Kusturica, Andreas Pils
Produktion: Linn Hütter
Team Werk X-Petersplatz: Cornelia Anhaus (kuratorische Leitung und Geschäftsführung), Mascha Mölkner (Künstlerisches Betriebsbüro), Ines Wessely (Technische Leitung) Anna Bauer (Auszubildende Veranstaltungstechnikerin)
Uraufführung goes Filmpremiere
15 Juni 2021, 19 Uhr bis 17. Juni 2021 Mitternacht
kostenlos als Video-on-Demand online verfügbar
werk-x -> Bibi Sara Kali
Danach Streaming – Ticket ab 5 €
18. Juni bis 20. Juli 2021