Im Theater der Jugend (Wien) werden zwei Prosa-Texte („Ein Kind“ und „Der Keller“) des einst umstrittenen, nach seinem Tod zur Legende gewordenen Autors lebendig.
Ewiger Außenseiter (häufig „Störenfried“ von der Fremd- zur Eigenbezeichnung verwendet). Als Kind von der alleinerziehenden Mutter mehrmals „abgegeben“, verschickt, und wenn bei ihr, dann abgelehnt, beschimpft, geschlagen. In einem militärisch geführten Erziehungsheim mit Essensentzug fürs Bettnässen bestraft. In der Schule missverstanden, an den Rand gedrängt. In dieser Ablehnung bestärkt durch das einzige geliebte Vorbild, den schriftstellernden Großvater, der Lehrer ebenso immer wieder der Idiotie beschimpft wie di Kirche. Schule abgebrochen, Lehre begonnen. Aber nicht bei einem Betrieb bester Innenstadt-Adresse, wie es die Arbeitsamts-Beamtin empfiehlt und dringend anrät, sondern in „entgegengesetzter Richtung“, ausgerechnet in der übel beleumundeten Stadtrandsiedlung. Heute würde sie als „sozialer Brennpunkt“ benannt werden. Dort fühlt sich er junge Mann offenbar erstmals rundum wohl, weil er als angehender Lebensmittel-Einzelhändler sinnvolle Tätigkeit verrichtet.
Fast denkunmöglich, dass bei solch einer Biographie einer der bedeutendsten österreichischen Autoren Österreichs erwächst. Und doch wurde Thomas Bernhard (1931 bis 1989) zu einem solchen. Wie als Kind lange abgelehnt, umstritten, nach und nach – und vor allem nach seinem Tod hochgelobt, fast zu einem Denkmal erhoben.
Die eingangs mehr als knapp zusammengefasste Kindheit und Jugend beschrieb, der vor allem für seine Theaterstücke – viele davon vom lange auch umstrittenen Burgtheaterdirektor Claus Peymann inszeniert – berühmt gewordene Schriftsteller in autobiographischen Texten. Liest du die Texte „Ein Kind“ bzw. „Der Keller – eine Entziehung“ mit den teils elendslangen, verschachtelten Sätzen und vielen Wiederholungen, denkst du – wie soll das auf die Bühne???
Und dennoch machte das Theater der Jugend in Wien in seiner kleineren Spielstätte (Theater im Zentrum) daraus einen dichten, aber nicht zu dichten, 2 ½-stündigen Theaterabend bzw. -nachmittag für (nicht nur) Jugendliche (ab 13 Jahren). Und das – beim Lesen der Texte – fast unmöglich erscheinende Vorhaben ist: Erstaunlich gut gelungen.
Gerald Maria Bauer, der es auch schaffte, überhaupt die Rechte dafür zu bekommen, hat – ausschließlich aus Textpassagen Thomas Bernhards aus den beiden genannten Abschnitten dessen Autobiographie – den zweiteiligen Abend montiert und inszeniert.
Der erste Teil – vor der Pause – spielt in einem Archiv aus alten Metall-Regalen mit Schachteln und Objekten wie einer alten Schreibmaschine, mindestens genauso alten Radioapparaten. Kästen, Laden, Metalltischen auf Rädern, unter anderem mit einem Computer, in dem offenbar Teile des Archivs digitalisiert werden. Sowie einem Schredder – in dem auch das erste Zitat, wonach Bernhard verfügte, dass Nichts aus seinem Werk in Österreich gesielt oder vorgetragen werden dürfe – zu Papierschnipseln wird. Und dann hängt da noch auf einem der Kästen, aus denen hin und wieder Schauspieler:innen auftauchen ein, nein DAS bekannteste, Schwarz-Weiß-Foto von Thomas Bernhard auf dem er nachdenklich und doch ein bisschen verschmitzt in die Gegend schaut.
Thomas Bernhard tritt zweifach oder zwiegespalten auf: Jasper Engelhardt spielt das Kind und Valentin Späth den erwachsenen Autor, der seine Kindheit reflektierend betrachtet – wie es der Text auch anlegt. Nur zu Beginn setzen sie papierene Gesichtsmasken auf. Ansonsten reicht ihr Spiel, der verinnerlichte Texte. Im Ping-Pong flitzen die Sätze zwischen den beiden hin und her – mitunter auch mitten im Satz.
Und in dieses Duo fügen sich auch die drei anderen Schauspieler:innen ein: David Fuchs (vor allem als geliebter, bitterböse die gesellschaftlichen Umstände sowie Schule und Kirche kritisierender, verdammender schriftstellerische Großvater), Violetta Zupančič als Mutter, Erzieherin, Psychologin und Karikatur einer Arbeitsamt-Beamtin sowie Stefan Rosenthal. Der schlüpft in unzählige Rollen – von den Freunden des Kindes Bernhard (Schorschi und Hansi) über den verhinderten Musiker, der Lebensmittelhändler und damit Bernhards Ausbildner Karl Podlaha wird bis zum Gauleiter Giesler, dessen Auftritt der junge Bernhard erlebte.
Ins Zentrum des Stücks stellt die Inszenierung das Widerständische, das Gelingen. Der achtjährige Thomas Bernhard schnappt sich ungefragt das Waffenrad seines im 2. Weltkrieg in die Wehrmacht eingerückten Vormundes, tritt zum ersten Mal in seinem Leben in Pedale – und das gleich mit dem Ziel Salzburg (von Traunstein aus, Fahrstrecke mehr als 45 Kilometer). Sturz, kaputtes Rad, langer Fußmarsch. Angst vor Schimpfern. Aber Held!
Immer und immer wieder kommt das zur Sprache. Darum herum gruppiert die anderen – eingangs schon genannten – und weitere Lebensstationen des sich fast immer ungeliebt fühlenden Kindes.
Erst zwei Wochen vor der Premiere war fix, dass es nach dem rund 1 ½-stündigen Teil aus „Ein Kind“ auch einen zweiten Teil nach einer Pause geben würde. „Der Keller – Eine Entziehung“ schildert – sehr, sehr verknappt aber doch aufs Wesentliche konzentriert, wie Thomas Bernhard als Jugendlicher von einem Tag auf den anderen das Gymnasium hinschmiss, weil es ihn nicht nur nervte, sondern er die Schule für sinnlos hielt. Das vorherige Archiv (Bühnenbild: Friedrich Eggert) wird nun einerseits Arbeitsamt und dann Lager und Verkaufsstätte des Podlaha’schen Lebensmittelhandels in der Salzburger Scherzhauserfeldsiedlung. Hier blüht der jugendliche Bernhard auf – öffnet er sich auch, freundlich den Kund:innen gegenüber. Und seziert gleichzeitig den Umgang der Stadtväter mit diesem „Schönheitsfehler“ Salzburgs. Und einen Grundzug im späteren Schaffen von Thomas Bernhard: „in die entgegengesetzte Richtung“ zu denken, zu schreiben, zu handeln.
In diesem „sozialen Brennpunkt“ bezog – das konnte im Theaterstück nicht mehr untergebracht werden, ist aber im autobiographischen Text zu lesen – auch Etliches an Typenbeobachtung, Menschenkenntnis. Und so manche der realen Personen, die er als Kund:innen bediente bzw. aus der Siedlung kennengelernt hatte, kamen ihm später in seinem Brotberuf als Gerichtssaal-Berichterstatter beim Demokratischen Volksblatt wieder unter. Und in diesem Buch (Abschnitt seiner Biographie – Buchtipps in der Info-Box) setzt sich Thomas Bernhard auch ausführlich und tiefgründig mit Wahrheit und Lüge und der seiner Meinung nach Unmöglichkeit auseinander, Realität wirklich wahrhaftig und wahr darzustellen.
„Dass auch Schulabbrecher was werden können, darum wollte ich auch diesen Teil aus Bernhards Biographie mit einbauen“, nennt Gerald Maria Bauer im Gespräch mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… den Grund dafür, auch „Der Keller – Eine Entziehung“ wenigstens kürzest zu „Ein Kind“ zu packen.
Übrigens, der Darsteller des Kindes Thomas Bernhard, Jasper Engelhardt, hatte – in dem Fall nach der Schule in Kassel auch eine Lehre absolviert, „als Elektroniker bei Herrn Antić. Ich war in der Schule schon in der Theater-AG, hab viel gespielt, aber dass man das als Beruf erlernen kann, hat mir erst eine Mitschülerin in einer Physikstunde knapp vor dem Schulende gesagt.“
Gerald Maria Bauer selbst saß als 16-Jähriger in der berühmt gewordenen Uraufführung von Thomas Bernhards „Heldenplatz“. Zum 100-jährigen Burgtheatergeburtstag, vor allem aber auch zum 50. Jahrestag Österreichs Anschluss an Nazi-Deutschland war der Autor beauftragt worden ein Stück zu schreiben. Es waren außerdem die „Waldheim“-Jahre – Kurt Waldheim war österreichischer Bundespräsident (1986 bis 1992) und er hatte in seinem Lebenslauf verschwiegen, dass er ein hochrangiger Offizier in der Wehrmacht einerseits und obendrein freiwillig in der Nazi-Kampftruppe SA war.
Gegen das Stück und dessen Uraufführung gab es im Vorfeld eine mediale Hetzkampagne, während der Aufführung gab es organisierte Störaktionen und Pfiffe – sowie als Gegenreaktion Bravo-Rufe. „Wir Jungen waren alle durch den Waldheim Skandal und die mangelhafte Aufarbeitung der NS-Diktatur in Österreich ziemlich aufgeschreckt. Da war der Übertreibungskünstler Bernhard schon unsere Identifikationsfigur, an der man sich festhielt“, meinte Bauer gegenüber KiJuKU.
„Also ein Thomas-Bernhard-Fan?“ – auf diesen Einwurf des Journalisten nach der vielumjubelten Premiere entgegnete der Regisseur allerdings: „Am Montag liebt man ihn, am Dienstag hasst man ihn, am Mittwoch denkt man, er ist ein Genie, und am Donnerstag geht das Wechselbad der Gefühle von vorne los…“
von Thomas Bernhard
für die Bühne eingerichtet von Gerald Maria Bauer
Ab 13 Jahren
Ein Kind: Jasper Engelhardt
Ich (erwachsen): Valentin Späth
Die Mutter / Beamtin vom Arbeitsamt / NS-Erzieherin / Ritzinger Hildas Mutter / Frau Dr. Popp: Violetta Zupančič
Der Großvater / Der Dechant: David Fuchs
Georg genannt Schorschi / Hippinger Hansi / Ritzinger Hilda / Podlaha / Bauarbeiter / Gauleiter Giesler: Stefan Rosenthal
In weiteren Rollen: Ensemble
Regie: Gerald Maria Bauer
Dramaturgie: Sebastian von Lagiewski
Ausstattung: Friedrich Eggert
Assistenz und Inspizienz: Simone Tomas
Assistenz: Ana-Maria Kunz
Hospitanz: Fabian Tastel
Aufführungsrechte: Thomas Sessler Verlag GmbH, Wien
Residenz Verlag GmbH, Salzburg
Bis 22. März 2023
Theater im Zentrum: 1010 Wien, Liliengasse 3
tdj -> ein-kind
Thomas Bernhard
Ein Kind
160 Seiten
dtv (Deutscher TaschenbuchVerlag)
11, 95 €
Zu einer Leseprobe geht es hier
Thomas Bernhard
Der Keller – Eine Entziehung
137 Seiten
dtv (Deutscher TaschenbuchVerlag)
12 €
Thomas Bernhard
Die Autobiographie: Die Ursache, Der Keller, Der Atme, Die Kälte, Ein Kind
280 Seiten
Residenz Verlag
Gebunden: 29 €
Taschenbuch: 9,90 €
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