„Lagerkollaps!“ führt das Publikum zu unterschiedlichen Lagerräumen in Wien-Ottakring, um dort poetisch-philosophisch-sprachspielerischen inszenierten Monologen zu lauschen.
Unter Geisterwelten stellen sich die meisten wohl eher düstere Spukschlösser vor, oder unheimliche Keller vor. Gespenstisch auf eigene Art sind zumindest zwei der Spielorte im Stationentheater „Lagerkollaps!“ des „Vereins für vorübergehende Kunst Tempora“, das sich bis Mitte Oktober in Wien-Ottakring abspielt.
Vier Schauspieler:innen spielen an vier verschiedenen Orten inszenierte poetisch-philosophisch-sprachspielerische Monologe mit weitschweifenden, teils tiefgründigen Gedanken. Alle vier Orte sind Lagerräumlichkeiten, zwei ebenerdig und zwei in einem von Wiens Mega-„Self-Storage“-Etablissements. Ein paar Gehminuten vom Treffpunkt (Kulturverein ADA – artistic dynamic assosiation) entfernt befindet sich MyPlace – mit 1.600 Blech-Container-Boxen zwischen 1 und 50 m². Gänge, Blechtür an Blechtür. Jede nur unter ihrer Nummer zu finden. Würden die papierenen Schilder mit Pfeil zu Lift oder Treppenhaus abmontiert, du könntest wahrscheinlich stundenlang herumirren bis du einen Ausgang findest.
Bei Station 1 triffst du auf Philipp Laabmayr, den du im Vorraum vom Lift möglicherweise zunächst für einen Mitarbeiter halten könntest. Er entpuppt sich als ein wenig nerdiger, zwanglerischer Nutzer eines solchen Lagerraums, in den er das Publikum dann auch mitnimmt. Sein Text „Übergang“ (geschrieben von Gregor Guth) webt eine Art textlichen Boden auf dem solche Lagerboxen für Phasen des Übergangs gebraucht und genutzt werden. Offenbar Unmengen, denn allein dieses eine – seit rund zwei Jahrzehnten bestehende -„Lagerhaus“ umfasst ja – wie schon geschrieben – mehr als eineinhalb Tausend Boxen. Und das obwohl Pi mal Daumen ein 20 m² hier in Wien-Ottakring (da auf der Homepage übrigens verwirrenderweise und Hernals, dem Nachbarbezirk, firmiert) 600 Euro pro Monat kostet.
Das Abstellen, Wegbringen, Lagern, aus dem Blickfeld bringen ist ein lukratives Geschäft – und erfüllt offenbar das Bedürfnis von immer mehr Menschen bzw. Unternehmen, die „auslagern“.
Neben den großen internationalen Konzernen (My Place hat mittlerweile 62 Standorte in Österreich, Deutschland und der Schweiz) schießen sozusagen wie Schwammerln aus dem Boden kleinere Store-Boxen in vormaligen Erdgeschoß-Lokalen. „Das ist mir beim Radfahren in der Stadt aufgefallen“, nennt Veronika Glatzner, die „Lagerkollaps!“ konzipiert und inszeniert hat, nach der Generalprobe Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… als Ausgangspunkt für dieses Stationentheater im urbanen Raum. Der Verein Tempora nennt sich auch „für vorübergehende Kunst“ und spezialisiert sich auf sogenannte Zwischennutzungs-Lokalitäten.
So wie durch die zunehmenden Lagerräume Flächen für Begegnungen von Menschen in Erdgeschoßlokalen oder auch Wohnen in Häusern verloren gehen, so philosophiert Julia Schranz im Monolog „Obwohl es vom Himmel verschwindet“ (von Magdalena Schrefel) über den Verlust des „Blauen vom Himmel“. Immer grauer werde dieser, verliere seine vielfältigen Blau-Töne und -Schattierungen, deshalb müsse sie diese einsammeln, um sie zu retten bevor sie ganz verschwinden. …
Die Reihenfolge der Stationen ist natürlich nicht für alle gleich. Alle gehen gleichzeitig los, steuern in kleinen Gruppen die vier Stationen an, wo zeitgleich gespielt und dann weitergezogen wird, was auch heißt, dass die Künstler:innen ihre Auftritte vier Mal hintereinander spielen. Der – den Rezensenten – am meisten beeindruckend findet im Erdgeschoß des Kulturvereins statt, einer ehemaligen Pizzeria. Hier lümmelt wie hingemalt, fein gekleidet Grischka Voss als „Storebox-Mom“. In dem von ihr selbst geschriebenen Text outet sie sich als Verwalter der Überreste zerbrochener Beziehungen – mit subtilem bis bitterbösem Humor. Nur Kinder und Haustiere nehme sie nicht mehr an, dafür zählt sie angebliche skurrile Überbleibsel wie abgegebenen Brustimplantate auf. Und sie habe ihr Angebot erweitert auf Lagerräumlichkeiten für nicht verwirklichte Wünsche und Träume.
Übrigens, einer der Werbeslogans des oben genannten Lagerraum-Konzerns lautet: „Damit Träume Wirklichkeit werden, muss man manchmal ein paar Dinge aus dem Weg räumen!“
Last but not least – für andere ja sogar die erste oder jedenfalls eine frühere Station – startet und endet im Freien vor einem solch temporären Erdgeschoß-Lagerraum, in dem dazwischen auch drinnen Valentin Postlmayr seinen eigenen Monolog „Wastl die Leich“ spielt. Vier Pressspanplatten-Pfeile sind sein Ausgangspunkt für die morbiden Gedanken, von dieser Form der Holzleichen zu Maden, die sich durch das Gehirn eines Menschen fressen und so Räume für deren Kinder öffnen, zu spintisieren und über die Konkurrenz von Leben und Dingen…
Stationentheater zur VerLagerung des urbanen Raumes
Tempora – Verein für vorübergehende Kunst
Konzept, künstlerische Leitung, Regie: Veronika Glatzner
Texte: Gregor Guth, Valentin Postlmayr, Magdalena Schrefel und Grischka Voss
Darsteller:innen: Philipp Laabmayr, Valentin Postlmayr, Julia Schranz, Grischka Voss
Ausstattung: Valentin Hämmerle
Kostüm: Nina Samadi
Outside Eye (dramaturgische Beratung): Carolyn Amann
Regieassistenz: Alina Hainig
Produktionsleitung: Magdalena Stolhofer
Grafik: Heike Schäfer
23., 28., 29. September 2023
1., 5., 7., 8., 13. Und 15. Oktober 2023
jeweils 19.30 Uhr
Treffpunkt: ADA – artistic dynamic assosiation
1160, Wattgasse 16/6
(Nicht barrierefrei, wie auch einige Spielorte)
verein-tempora.org
Zu Tickets geht es hier