Interview mit Özgür Anil, Regie-Student an der Filmakademie bei Michael Haneke und Regisseur u.a. des mehrfach prämiierten Kurzfilms „Das Urteil im Falle K.“
Zu Beginn des Films wird ein Urteil im Gerichtssaal gefällt. Als ZuseherInnen begleiten wir die Familie eines 17-jährigen Vergewaltigungsopfers in ihren Versuchen, einen Weg in die Normalität zu finden. Dabei werden wir mit Fragen zu Gerechtigkeit, Umgang mit diversen Emotionen, Menschsein und menschlicher Ambivalenz konfrontiert.
K. wurde von zwei Männern vergewaltigt. Nach dem Urteilsspruch im Gericht findet der Bruder des Opfers, die beiden Täter seien mit zu geringer Strafe davongekommen, er sinnt auf Rache. Doch das führt der Regisseur gar nicht aus, sondern vor allem die Dynamik in der Familie der beiden jugendlichen Geschwister und des alleinerziehenden Vaters.
Özgür Anils Film „Das Urteil im Fall K.“ wurde auf mehr als zwei Dutzend Festivals gezeigt und mit fast einem halben Dutzend an Preisen bedacht, unter anderem „bester Nachwuchsfilm“ bei der Diagonale vor zwei Jahren.
Wie bist du auf das Thema gekommen? War das eine rein fiktive Geschichte oder gab es vergleichbar ähnlich mediale Fälle, die du mitbekommen hast?
Özgür Anil: Es war ein rein fiktiver Fall. Mich haben über einen längeren Zeitraum mehrere Themen beschäftigt, interessiert und wütend gemacht. Ich habe eigentlich schon vor Jahren Zeit in Gerichtsverhandlungen am Landesgericht verbracht und mir Prozesse angehört, weil ich es einfach sehr interessant finde in einer offenen Gesellschaft, ein Rechtssystem, das bestrafen muss, zu beobachten. Dabei ist der Mensch dann als dieses ambivalente Wesen anwesend. Wie geht man damit um?
Ich finde die Frage von Gerechtigkeit sehr spannend und sie hat mich schon immer sehr beschäftigt. Es waren dann aber mehrere Sachen: Wenn man in der Redaktion umhergeht und auf der Titelseite einer Zeitung ein verpixeltes Gesicht eines Menschen sieht … Allein das hat bei mir ein Unwohlsein ausgelöst. Dem kamen dann mehrere Umstände und Sachen hinzu, die mich aufgeregt haben. In diesen Momenten habe ich gemerkt, dass da Emotionen bei mir hochgehen, die zu Sachen führen könnten, die nicht richtig sind. Es ist ein spannender Bereich, vor allem wenn ich auch in meiner eigenen Haltung merke, dass Abgründe in einem selbst aufgehen. Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, bei dem diese Abgründe aufgehen, denn man liest ja von solchen oder ähnlichen Fällen in der Zeitung und es regt einen auf und diese Emotion, die es bei mir ausgelöst hat, die wollte ich näher erkunden. Diese Emotionen waren dann der Ausgangspunkt für die Geschichte.
Ein Teil der Geschichte ist der Rahmen: Prozess und Gerechtigkeit, Recht. Warum bist du dann auf die Geschichte einer Vergewaltigung gekommen?
Özgür Anil: Weil ich mir gedacht habe, das ist zurzeit ein Thema vor allem in Bezug auf die gesellschaftliche Debatte um Frauen und Gleichstellung. Gewaltakte, Femizide, die zurzeit stark im Fokus stehen, über die auch sehr viel gesprochen wird und die natürlich sehr stark aufregen. Ich habe mir gedacht, dass es von all den Dingen, die mir eingefallen sind, etwas ist, das bei mir eben ein sehr starkes Gefühl ausgelöst hat, und das wollte ich dann in Kontrast setzen zum Gerichtsverfahren, das objektiv sein soll/will. Wie kann man im Zuge so einer Tat dennoch durch einen demokratischen Rechtsstaat erleben, der trotz der Emotionen einen Prozess führen und ein Urteil fällen muss. Im Gegensatz zu Menschen, die mit Gefühlen ausgestattet sind, die es einfach nicht kaltlassen kann, weil es ein Familienmitglied betrifft. Wie gehen diese dann damit um?
Weshalb haben sowohl die Täter als auch das Opfer türkischen Migrationshintergrund. Weshalb spielt die Geschichte im türkischen Milieu?
Özgür Anil: Einerseits, weil ich finde, dass aufgrund der tragischen Natur solcher Taten oft das Faktum überschattet wird, dass bei solchen Gewalttaten ganz oft ein Verhältnis zwischen Opfer und Täter besteht. Desweiteren wollte ich einen Film machen, wo man die moralische Grenze nicht entlang einer Herkunft ziehen kann. Einerseits kann man sagen Menschen mit Migrationshintergrund sind Opfer dieser Gesellschaft andererseits gibt es die andere Seite dieser, in welcher man sagt, dass sie Täter seien und Schuld an diversen Dingen, die falsch laufen, tragen. Sie sind jedoch Menschen. Wie alle andere Menschen auch haben sie gute und schlechte Seiten. Ich finde erst, wenn man diese beiden Seiten dieses Menschenseins akzeptiert, die jeder Mensch in sich trägt, kann eine ernsthafte Teilhabe passieren. Das war so ein bisschen die Idee dahinter, dass man sagt „Okay, da ist es nicht ganz klar zuzuordnen“.
Die Texte der meisten Szenen sind auf Türkisch und mit englischem Untertitel versehen. Hast du das Gefühl, dass bei Übersetzungen der Inhalt verloren geht?
Özgür Anil: Absolut, es geht ganz viel verloren durch die Untertitel. Das habe ich bereits beim Schreiben des Drehbuches bemerkt. Das musste ich auf Deutsch schreiben. Ich hatte aber eine deutsche und eine türkische Version. Das ganze Team hatte die deutsche Version und ich hatte die türkische Version und da waren einfach Sachen, wo du merkst, das kann man nicht so gut ausdrücken, aber das ist halt leider die Krux am ganzen Filmemachen, dass man mit dem rechnen muss. Da muss man dann halt versuchen, die Untertitel so gut wie möglich zu machen. Den Vorteil, den ich hier bei den Untertiteln hatte, war, dass diese meine Cousine gemacht hat die Translationswissenschaft studiert hat. Sie kann sehr gut Deutsch, Türkisch und Englisch und das war eine große Hilfe, so nah wie möglich an die Originalsprache ranzukommen.
Gibt es dann nie die Überlegung, synchronisierter Versionen oder auf einer DVD bzw. online mit Sprachauswahl Versionen in mehreren Sprachen zu haben?
Özgür Anil: Das wäre super und ich finde das großartig. Das Problem dabei ist, dass wir ein kleines Budget bei dem Film hatten und, dass solche Entscheidungen oft nicht mehr in unseren Händen liegen, weil die Festivals, die den Film zeigen, zeigen ihn alle mit Untertiteln. In Frankreich und Spanien bestehen sie zum Beispiel auf französische und spanische Untertitel. Das ist immer schwierig, aber das müsste dann eine Produktionsfirma, die den Film professionell vertreibt, organisieren. Das wäre in unserem Rahmen leider nicht möglich gewesen.
In der Szene wo Ekrem im Bus sitzt, sagt er seinem Vater, dass er seit Tagen nicht mehr schlafen kann, erzählt von wiederkehrenden Träumen und sagt dabei: „Biraz yagmur, sonra sel, her yeri su götüriyor“ (zu Deutsch: ein wenig Regen, danach eine Überschwemmung, alles steht unter Wasser). Was wolltest du mit dieser Wassersymbolik erreichen? Wofür steht sie?
Özgür Anil: Die Sache ist, ich will da ungern eine Interpretation liefern, weil mir generell beim Filmemachen sehr wichtig ist, Filme so zu konstruieren, dass das Publikum dazu angeregt ist, aktiv zu werden. Ich will keine/n Zuseher oder Zuseherin, die sich dem Film passiv hingibt. Es gab ein interessantes Erlebnis, bei der ersten Vorführung saß ich neben einem Mann, der die erste Szene des Filmes gesehen hat. In der ersten Szene sieht man die beiden Männer und man denkt vielleicht, dass das die Täter sind, das wollte ich nämlich so ein bisschen offenlassen, danach kam der Titel und die zwei Männer saßen im Bus. Seine ganze Körpersprache hat sich in dem Moment geändert und ich habe gemerkt, wie er jetzt anfängt, nachzudenken. Das war etwas, was mir sehr wichtig ist, im Erzählen, dass der Film auf ZuseherInnen angewiesen ist, die bereit sind nachzudenken. Ihre Emotionen mit den Bildern zu verknüpfen und ihre eigene Interpretation zu haben. Deshalb würde ich da ungern erklären wollen, was ich mir dabei gedacht habe. Ich habe mir etwas dabei gedacht, aber das, was ich mir denke, ist nicht besser oder richtiger als was sich andere Menschen denken.
Ich fand es sehr schön, weil das der Ekrem am Anfang sagt und die End-Szene ist im Grunde genommen eine Visualisierung, von dem. Deine Antwort macht aber auch Sinn. Viele Szenen hatten einen ziemlich großen Interpretations-Spielraum. Zum Beispiel die Szene am Klo. Ich vermute, dass das andere Mädchen das Gespräch am Schulklo mitgehört hat, aber ganz kann ich das gar nicht wissen. Das hast du mir überlassen.
Özgür Anil: Genau das war das Ziel. Manche Leute sehen das mit dem Klo und manche Leute sehen es nicht. Das ist ehrlich gesagt eines der schwierigsten Dinge beim Filmemachen. Räume groß genug für Interpretationen zu lassen – dass sie da sind ohne zu groß zu sein. Dass man auch ein wenig den Anschluss an den Film verliert und da stecke ich immer sehr viel Zeit rein, dass das in einem ausgewogenen Verhältnis steht.
Ist das denn auch der Grund, warum eigentlich das Opfer selbst ganz wenig zu Wort kommt? Schon beim ersten Ansehen habe ich mir gedacht, das wird aus der Perspektive der Männer erzählt und die Betroffene selbst wird eigentlich mehr oder minder ein zweites Mal zum Opfer, weil immer über sie verhandelt wird und sie selbst nicht. Oder soll genau dieses Gefühl bei den Zuseher:innen entstehen, Ärger darüber, dass sie frisch wieder nicht so wirklich zu Wort kommt?
Özgür Anil: Es gab zwei Ebenen: Einmal habe ich mir gedacht, ja – ich fand es sehr interessant, dass sehr stark über sie verhandelt wird und dass sie dadurch dann sozusagen auch an den Rand gedrückt wird, wo sie dann auch nicht mehr Teil des Aufarbeitungsprozesses ist. Andererseits und so ehrlich muss ich sein, bin ich nicht ganz zufrieden mit der Tatsache, dass sie so wenig zu Wort kommt. Ich hatte ein längeres Drehbuch, wo mehr Handlungsstränge vorhanden waren. Allerdings wäre dieser Film 50 Minuten lang geworden. Ein Kurzfilm darf nur 30 Minuten sein, das war ein sehr mühsamer und langer Prozess, das Ganze auf 30 Minuten runter zubekommen. Wir sind auf die Sekunde genau bei 30 Minuten.
Ich habe gemerkt, wenn ich den Film aus ihrer Perspektive erzähle, habe ich am Ende eine ganz andere Fragestellung und ich habe mir gedacht, es ist schwierig, der Komplexität ihrer Figur der Komplexität dessen was ihr angetan wurde, gerecht zu werden.
Ich mag es, Ambivalenz zu erzeugen, wo es nicht ganz klar ist, ob es richtig oder falsch ist oder Sonstiges ist. Das habe ich beim Bruder und beim Vater bis zu einem bestimmten Grad hinbekommen können. Nur bei ihr ist es mir sehr schwergefallen, einer Figur mit solch einem tragischen Schicksal eine gewisse Ambivalenz zu geben. Das wäre meiner Meinung auch ihrer Figur gegenüber sehr ungerecht. Ich bräuchte viel mehr Zeit, um das behandeln zu können.
Dann könnte ich aber die Fragen, die mich am Anfang interessiert haben, nicht ansprechen. Das ist auch der Grund, weshalb ich für mich entschieden habe, dass „das Urteil im Falle K.“ mein letzter Kurzfilm ist. Im Rahmen eines Kurzfilms komme ich nämlich, mit dem was ich erzählen will, aus rein längentechnischer Sicht, an eine einschränkende Grenze und das will ich mir nicht mehr antun. Deshalb habe ich den Entschluss gefasst keine Kurzfilme mehr zu machen.
Man könnte eine zweite Variante machen, wo sie im Zentrum steht …
Özgür Anil: Das wäre auf jeden Fall sehr spannend. In meinem neuen Film habe ich eine weibliche Hauptfigur. Dementsprechend stehen ihre persönliche Perspektive und ihre Entwicklung im Mittelpunkt/Zentrum der Handlung. Eben, weil ich es schade fand, dass ich das bei diesem Kurzfilm so stark kürzen musste.
Würdest du sagen, dass das Kürzen mitunter einer die schwierigsten künstlerischen Entscheidungen war, die du bei diesem Projekt getroffen hast?
Özgür Anil: Auf jeden Fall, weil es eben ihrer Person nicht gerecht werden konnte. Und das ist in Anbetracht des Themas und den Fragen sehr schade. Da sie auch nicht in dem Ausmaß zu Wort gekommen ist, in dem sie es verdient hätte.
In einer Szene zwischen Vater und Sohn sagt der Vater (Mustafa) zu seinem Sohn Ekrem „Er hat es verdient, aber tu es nicht. Er hat es verdient, aber wir brauchen Zeit und mit der Zeit wird alles besser.“ Bist du selbst der Meinung, dass mit der Zeit alles besser wird?
Özgür Anil: Ich kann es nicht aus objektiver Sicht so einfach beurteilen. Was mich grundsätzlich interessiert ist die Frage „Wie funktionieren wir Menschen?“. Das ist eigentlich das Hauptding, dass mich antreibt und ich mag es auch sehr gerne in Momente von Menschen reinzuschauen wo wir nicht so gut funktionieren oder Sachen/Situationen von ihnen zu beobachten, die man eher versteckt halten will. Dinge über die wir nicht so gerne reden. Kurzum: Wie verhalten sich Menschen?
Eine Sache, die ich bemerkt habe: Etwas regt einen fürchterlich auf. Dann schläft man eine Nacht, wacht am nächsten Morgen auf und auf einmal schaut die Welt ganz anders aus. Das ist doch faszinierend, was in einem Menschen passieren kann, wenn man sich einfach hinlegt und schläft. Vielleicht ist es am nächsten Tag noch immer schlimm, auch zwei oder drei Tage später noch. Doch irgendwann einmal ist die Wut und Energie, die man hatte, zwar nicht verflogen, aber es findet ein neuer Prozess des Auseinandersetzens statt. Das finde ich interessant.
Eine Sache, die mich auch interessiert, sind kleine Details, die zwar nicht direkt etwas mit dem Haupthandlungsstrang zu tun haben, aber wenn uns etwas ganz Schreckliches passiert, habe ich zumindest oft das Gefühl/den Gedanken: Wie kann diese Welt überhaupt noch weitergehen? Ich bin so traurig und was gerade passiert ist so schlimm, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Menschen am nächsten Tag in die Arbeit gehen und auch alles andere eigentlich seinen Lauf nimmt. Auch das fände ich erzählenswert. Das man sich eben denkt: „Das ist so schrecklich. Es kann doch nicht sein, dass es einfach so weitergeht.“
Ich weiß nicht, ob alles mit der Zeit besser wird. Ich merke nur bei mir persönlich, dass eine gewisse Form von Wut verfliegt, wenn ich mir die Zeit nehme über gewisse Dinge nachzudenken. Eines kann ich aber verraten: Ich glaube nicht so stark an Happy Ends deshalb habe ich es auch bei dem Film nicht machen wollen, weil ich auch das Gefühl habe, dass ein Film ohne Happy End das Publikum länger begleitet.
Danke, Tesekkürler für das ausführliche Gespräch.
Fatima Kandil und Heinz Wagner
Das Urteil im Fall K.
Kurzspielfilm, AT 2020, 30 min
Regie/Buch: Özgür Anil
Kamera: Lukas Allmaier
Schnitt: Philipp Mayer
Produktion: Jakob Widman
Ton: Benedikt Palier, Jón H. Geirfinnsson, Joseph Mittermeier
VFX: Gerd Zimmermann
Szenenbild: Ashley Johnson,
Kostüm: Lena List
Regieassistenz: Nicole Stiegler
DarstellerInnen: Nazmi Kirik, Cem Deniz Tato, Zelal Kapcik, Onur Poyraz, Asin Alev, Mirkan Öncel, Michael Fuith, Martina Poel
Förderungen: MA7 Wien Kultur, Bezirk Brigittenau, Come On!
Verleih: Lemonade Films