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Szenenfoto aus "Go fishing"
Szenenfoto aus "Go fishing"
06.11.2025

„Ihr müsst wieder mal fischen gehen!“

Die sechste Ausgabe des Festivals experimenteller Zirkuskunst „On the Edge“ wurde mit einer Arbeit über die Rettung einer jüdischen Familie durch eine andere bekannte Zirkusfamilie eröffnet.

Eine Wand aus 25 Übersiedlungskartons in den Farben zwischen grau bis grünlich steht am Beginn einsam im Hintergrund der Bühne auf dem weißen Tanzboden. Die Performerin mit Headset neben dem Techno-Musik-Pult. Es steht die Eröffnung des sechstens Festivals für experimentelle Zirkuskunst On The Edge (Am Rande) an. „Zirkus? Ja. Aber nicht so wie du denkst“, lautet das Motto des Festivals.

Und das bestätigt sich gleich einmal. Die Performerin ist nicht im knappen Glitzerkleidchen und es folgen keine hals- und beinbrecherischen Sprünge. Am Beginn steht noch nicht einmal die Geschichte selber, die in dieser ¾ Stunde mit Worten, Bewegungen und eingeblendeten Fotos bzw. Video-Ausschnitten erzählt wird. Verena Schneider startet mit der Erzählung des Making of von „Go fishing“, mit der das diesjährige, bereits sechste Festival eröffnet wurde.

Das Festival und sein künstlerischer Leiter Arne Mannott wollten eine Eigenproduktion und das mit einem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Die Zirkuskünstlerin Irene Bento aus der einst berühmten Dynastie des Lorch-Zirkusses, ihr Leben, ihr Überleben offen versteckt im Zirkus Althoff sollten Inhalt der Performance sein.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Go fishing“

War schon einmal bekannter

Schon vor 30 Jahren wurde der Fernsehfilm des WDR (Westdeutscher Rundfunk) „Zuflucht im Zirkus – Die Artistin und ihr Retter“ (Drehbuch: Ingeborg Prior, Regie: Micha Terjung, Kamera: Gerald Schlaffke ausgestrahlt, Prior veröffentliche zwei Jahre danach ds gedruckte Buch „Der Clown und die Zirkusreiterin“ über Irene Bento aus der Dynastie des eins weltberühmten Zirkus Lorch. Und dennoch scheint die Geschichte (wieder) in Vergessenheit geraten zu sein, nicht einmal im Wiener Circus- und Clownmuseum findet sich dazu etwas.

Exemplare des Buches, Broschüren und Videos im Foyer des Theaters boten Zusatzinformationen zu
Exemplare des Buches, Broschüren und Videos im Foyer des Theaters boten Zusatzinformationen zu „Go fishing“

Die Geschichte

Schon 1930 musste der aufgrund des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland als Unternehmen aufgeben, die Artist:innen wurden von anderen Zirkussen engagiert. In ihrem Heimatort Eschollbrücken, einem kleinen Ort nahe von Pfungstadt, wo der Zirkus Lorch sein Winterquartier hatte, erlebte Irene als Schulmädchen am eignen Leib die stärker werdenden Anfeindungen als Jüdin. Nach und nach wollte niemand mehr aus ihrer Klasse etwas mit ihr zu tun haben.

Und es wurde ärger, die Faschisten verhafteten am 7. März 1943 einen Teil der Familie, darunter Irenes geliebte Großmutter Sessi, verfrachteten sie ins Konzentrationslager Auschwitz wo die Oma, die Onkeln Arthur, Eugen und Rudolph ermordet wurden.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Go fishing“

Einige hatten Glück und Mut

Irene selbst hatte das Glück im Zirkus Althoff aufgenommen zu werden, mit ihr auch ihre Schwester Gerda und noch zwei Verwandte. Die Althoffs entschieden sich bewusst, die Zirkuskünstler:innen, die ihnen auch viel für die Programme ihrer Shows brachte, aufzunehmen und damit ihnen das Leben zu retten. Da die Nazis ständig in jedem der Orte der Zirkustouren nach Jüd:innen suchten, mussten die Bentos – aber auch die Althoffs als deren Beschützer:innen – immer zittern. Drohte Gefahr, so klopfte der Zirkusboss meist himself am Zirkuswagen der Bentos an mit den Worten: „Ihr müsst wieder mal fischen gehen“, erinnert sich Irene Bento in der erwähnten TV-Dokumentation.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Go fishing“

Making of

Und daraus formten Arne Mannott vom Festival und als Ideengeber und dramaturgischer Begleiter des neuen Zirkusstücks, Dorothea Zeyringer als künstlerische Leiteirn des projekts und Regisseurin den Titel „Go fishing“, offenbar nachdem schon das Festival einen englischen Titel hat – und auch international gedacht und angelegt ist, heuer sogar mit einem Symposium und Vernetzungstreffen unter dem Titel „I wanna circus with you“.

Zeyringer fuhr nach Eschollbrücken, wo sie vor allem von Renate Dreesen, die mit dem Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt 2002 die erste Ausstellung über diese Geschichte in der einstigen und nunmehrigen wieder Heimatstadt der Bentos organisiert hatte, aus der in der Folge auch eine Dauer-Schau im örtlichen Museum wurde. Wobei Irene, wie sie in dem Film sagt, kaum mehr in die Stadt gegangen ist, weil sie Angst hatte, vielen Menschen ins Gesicht zu sagen, was und wie sie ihr als Kind mit der Ausgrenzung und dem Hass weh getan haben. Einen besonders krassen Fall musste sie einige Jahre später bei der Geburt ihres ersten Kindes – noch in der Nazizeit – erleben. Als der Arzt erfuhr, dass sie Jüdin ist, behandelte er sie medizinisch dermaßen arg, dass sie später nie wieder als Artistin auftreten konnte.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Go fishing“

Performance daraus, dazu und mehr…

Wie das Team zu den Informationen gekommen ist, wie die beiden schon Genannten gemeinsam mit der Performerin Verena Schneider und Gammon, dem Musiker und Gestalter der Videos gemeinsam den Abend entwickelten ist im ersten Teil vor und mit den Karton-Boxen zu hören, sehen und erleben. Die „Mauer“ wird unter anderem zur rettenden Trennwand im Zirkuswagen, hinter der sie sich versteckten, wenn’s ganz eng wurde, die einzelnen Elemente zu Archiv-Boxen, aus denen die Performerin symbolisch ganz wenige Teile hervorholt. Ihre Gänge dazwischen vollführt sie oft im Handstand auf und rund um die Kartons, mitunter mit Überschlägen und anderen akrobatischen Nummern. Zu guter Letzt formt sie aus allen 25 Kartons das Manegenrund. Das noch dazu als gemeinsamer Kreis auch für den Zusammenhalt stehen könnte.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Go fishing“

Brücke zur Gegenwart

„Go fishing“ erzählte aber nicht nur mit kleinen, wichtigen Mosaiksteinchen die Geschichte, sondern spricht dezidiert, aber nicht platt und aufgesetzt das Thema Solidarität – auch in der Gegenwart an. Und gegen Ende tanzt Verena Schneider durch die neue Manege in einem gemeinsamen artistischen Duett mit der gedachten Irene Bento, die neben Kunststücken auf Pferden auch Seiltänzerin, Akrobatin in Menschenpyramiden, einfach vielseitige Artistin war. Die Musik schwebt wie eine weitere unsichtbare Artistin – nicht nur über der beschriebenen Szene, sondern als fast ständiges Moment, das die Atmosphäre des gerade erzählten untermalt, verstärkt, weitere Assoziationen dazu eröffnet.

Nachgespräch

Zum Nachgespräch am Eröffnungsabend war unter anderem die schon genannte Renate Dreesen nach Wien angereist, die ihre Arbeit vor allem als Beitrag gegen Antisemitismus und Rassismus versteht. Ebenfalls zur Gesprächsrunde mit Regisseurin und Performerin angereist war einer der Enkel Irene Bentos, Davids Storms, der viele Erinnerungen an seine Oma einbringen konnte.

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Go fishing

Eigenproduktion des Festivals experimenteller Zirkuskunst On The Edge
Ca. ¾ Stunde

Künstlerische Leitung und Regie: Dorothea Zeyringer
Kreation und Performance: Verena Schneider
Musik und Video: Gammon
Idee und dramaturgische Begleitung: Arne Mannott
Produktionsleitung: Nefeli Antoniadi

Dank an: Astrid Storms-Fontner, Renate Dreesen / Arbeitskreis Ehemalige Synagoge Pfungstadt, Westdeutscher Rundfunk, United States Holocaust Memorial Museum Collection

TV-Film

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Mehr Informationen

On The Edge

Festival für experimentelle zirkuskunst

Wann & wo?

Bis 15. November 2025
Theater am Werk / Kabelwerk, 1120
Theater am Werk / Peterplatz, 1010
Dschungel Wien, MuseumsQuartier

ontheedge.at