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Bildmontage aus einem Szenenfoto von "Frühlings Erwachen" im Theater der Jugend und einem aus "Frühlings Neuerwachen" im Werk X-Petersplatz sowie einem Schriftzug
Bildmontage aus einem Szenenfoto von "Frühlings Erwachen" im Theater der Jugend und einem aus "Frühlings Neuerwachen" im Werk X-Petersplatz sowie einem Schriftzug
05.04.2023

Jede Generation muss es durchleben: Frühlings (Neu)Erwachen

Das zu seiner Entstehungszeit umstrittene, scharfe kritische Stück von Frank Wedekind – nach drei Verschiebungen – nun in zwei Versionen auf Wiener Bühnen, einmal ins hier und heute geholt, das andere Mal als Erinnerung Älterer.

Rund um den aktuellen Frühjahrsbeginn fanden zwei Premieren nach dem einstigen Skandalstück „Frühlings Erwachen“ statt. In beiden Fällen sollten sie schon vor drei Jahren über die Bühnen gehen und mussten mehrmals aus den bekannten Gründen verschoben werden. Aber nun: Im großen Haus des Theaters der Jugend, im Renaissancetheater in der Wiener Neubaugasse läuft seither – bis 26. April 2023 – eine ins Heute geholte Version (2 ½ Stunden, eine Pause) in der Regie des Direktors. Im Werk X-Petersplatz lesen mit einigen szenischen Einsprengseln ältere Frauen und Männer „Frühlings Neuerwachen“ sozusagen als Erinnerung an ihre Jugend.

„Manchmal denke ich mir, was für einen Sinn es hat, dass jede Generation wieder das Gleiche durchmachen muss“, sagt Moritz Stiefel – und das ist so etwas wie das verbindende Element. Auch wenn es heute – hier in Mitteleuropa längst zu keinem Skandal mehr kommt, wenn jugendliche Protagonist:innen offen auf der Bühne über die in der Pubertät aufkeimende Sexualität sprechen. 1891 als Frank Wedekind das Stück mit dem Untertitel „Eine Kindertragödie veröffentlichte der Fall war, die Uraufführung konnte erst 15 Jahre später stattfinden.

Der Druck wird nicht weniger, eher im Gegenteil

Neben den erotischen und sexuellen Gefühlen, die zwischen den handelnden Figuren entstehen oder/und besprochen werden ist ein zweites zentrales Element der (Leistungs-)Druck; sowohl der von der Schule ausgehende als jener von Seiten der Eltern, der sich nicht nur aufs schulische Fortkommen bezieht, der die Jugendlichen aufreibt. Und der hat sich nicht verändert, nicht verringert. Der Druck zur „Selbstoptimierung“ ist möglicherweise sogar noch (deutlich) gestiegen – nicht zuletzt durch Social Media und damit jederzeit immer präsent und „perfekt“ sein/aussehen zu müssen einerseits. Und wenn Mobbing, gedisst werden oder wie verspotten, runtermachen, erniedrigen, ausgrenzen auch immer aktuell genannt werden, so ist „dank“ des allgegenwärtigen „Netzes“ praktisch kein Entkommen.

Genderfluid, (Anti-)Rassismus

Und so spielt in der Inszenierung von Thomas Birkmeir im Theater der Jugend – auch wenn bei der Vorstellung, die Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… eher die Großeltern-Generation im Publikum dominierte – Smartphones eine große Rolle. Dazu kam, dass Otto beginnt auch als Ilse (Jakob Pinter) erst zögerlich und dann offener aufzutreten und damit auch Gender-Fluidität, non-binär und transgender thematisiert; ebenso wie Multikulturalität, indem Daria (Shirina Granmayeh) Kopftuch trägt und dies von manchen der jugendlichen Truppe zu rassistischen Anfeindungen genutzt wird, wogegen sich andere (massiv) stellen.

Auf der schrägen Bühne (Andreas Lungenschmid) – wofür der Hausherr eine Vorliebe hat – die aber dieses Mal von unten noch dazu beleuchtet werden kann und für vielfältige Lichtstimmungen (Lukas Kaltenbäck) sorgt und vor einer Wand aus stilisierten Grabsteinen im Hintergrund spielt sich das heutige „Frühlings Erwachen“ in Etwa nach dem Bogen des Originals ab.

Heftigste Szene

Der Beginn aber ist weit dramatischer (Gerald Maria Bauer): Mutter Bergmann legt eine Rose vor der schrägen Bühne ab, aufs unsichtbare Grab ihrer Tochter Wendla, betrauert einerseits den Tod (hier natürlich nicht nach einer Abtreibung, sondern einer Schwangerschaftskomplikation), um gleichzeitig über die Kosten der täglichen Blumengabe auszuholen und gegenzurechnen, was sie sich aber jetzt an Ausgaben spart.

Gleich darauf folgt die vielleicht emotional stärkste Szene des ganzen Stücks, die Rückblende auf einen heftigen Streit der Mutter mit ihrer Tochter. Victoria Hauer und Simone Kabst fetzen sich. Aus der Länge des Kleides im Original wurde hier der Wickel um ein Tattoo, das sich Wendla stechen lassen will. Und der Kampf der 15-Jährigen um ihr Recht, selbst zu bestimmen sowie gegen Scheinheiligkeit und Doppelmoral, denn was kriegt sie von der Mutter, die den Streit wieder beilegen will, zum Geburtstag: Ohrringe für die sie sich Löcher stechen lassen müsste!

Gefilmt

Moritz (Ludwig Wendelin Weißenberger) will seinen Selbstmord – er fürchtet nach schulischem „Versagen“ den Verstoß durch seine Familie – filmisch festhalten – mit Groß-Projektionen an die Grabstein-Wand. Im Gegensatz zu Wendla hat er ein sichtbares Grab im schrägen Bühnenboden, aus dem er gegen Ende des Stücks als Todesengel emporfährt, um Melchior (Curdin Caviezel) mit sich hinabzuziehen. Nicht nur, weil sie Freunde waren, sondern auch so etwas wie Brüder im Geiste, verzweifelt an der Welt und dem Leben, das sie für sinnlos hielten/halten, sagt letzterer doch knapp nach Moritz‘ Begräbnis über den Friedhof wandernd und Grabsteininschriften lesend: „Man könnte neidisch werden, dass ihr schon am Ziel seid!“

Lebe wohl

Aus seiner „No Sense“, „No Future”-Stimmung lässt er sich nicht einmal durch die Annäherung Wendlas samt ihrem „ersten Mal“, das er vordergründig gefühllos absolviert, herausbringen. Als er fast schon die Hand des Todesengels Moritz ergreift, bringt ihn das Auftreten des „vermummten Herrn“ (Claudia Waldherr, die zuvor Schülerin Thea spielt) dazu, sich doch fürs Leben zu entscheiden. Diese Figur Wedekinds tritt hier als Charlie Chaplin geschminkt und kostümiert (Irmgard Kersting) auf – und wird von einem Gutteil des ebenso adjustierten Ensembles – unterstützt. Und so verabschiedet sich Melchior von dem Freund, den er nie zu vergessen verspricht mit einem „Lebe wohl“, das er fast verschluckt, weil er (sich) fragt, ob man das zu einem Toten sagen könne 😉

Neu-Erwachen

Eine wenige Tage – bis 9. April 2023 – laufende Produktion von MERT Theater – in Kooperation mit Werk X Petersplatz weckt einigermaßen Erwartungen, fügt sie doch dem Originaltitel von Frank Wedekind ein „neu“ dazwischen und dem Untertitel ein „ewig dauernd“, also Frühlings Neuerwachen – eine ewig dauernde Kindertragödie. Darsteller:innen bzw. Lesende in „vorgerücktem Alter finden sich in einer ähnlichen Situation wie Wedekinds Jugendliche wieder: Während die einen noch als Kinder wahrgenommen werden, gelten alte Menschen nicht immer als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft“, lässt der Ankündigungstext auf eine spannende Interpretation hoffen.

Doch die Inszenierung (Anna Erdeős, Textbearbeitung: Florian Gantner) beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Lesung aus den Textbüchern mit einigen wenigen szenischen Einsprengseln. Die sieben Lesenden – Hannes Leo Wagner-Farber (Melchior), Elisabeth Tesch (Thea), Inge Kolm (Martha), Hildegard Zadrazill (Wendla), Agnes Zaunegger (Roberta sozusagen statt Robert aus dem Original), Nilüfer Borovali (Ilse) und Beytur Deniz Borovali (Moritz) – sitzen in einem Halbkreis mit Linien, die sternförmig auf ein rundes kleines (Bühnen-)Podest zulaufen. Hin und wieder erhebt sich die eine oder der andere der Vor-leser:innen, um hier szenisch weiter zu texten. Hinter den sieben Protagonist:innen erheben sich recht phallisch wirkende Objekte, die ihre Lichtfarben immer wieder wechseln können (Bühne: Mihály Taksás).

Die älteren Menschen scheinen sich sozusagen an ihre Jugend zu erinnern. Und das immer wieder, denn ganz am Ende beginnen sie sozusagen neuerlich mit den ersten Sätzen. Ist es der Wunsch nochmals jung sein zu wollen – und gerade die schwierigste Zeit nochmals durchleben zu wollen oder schon Vergesslichkeit?

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Frühlings Erwachen

nach Frank Wedekind
von Thomas Birkmeir
Ab 13 Jahren; 2 ½ Stunden (eine Pause)

Besetzung
Wendla: Victoria Hauer
Frau Bergmann / Frau Gabor: Simone Kabst
Moritz: Ludwig Wendelin Weißenberger
Melchior: Curdin Caviezel
Daria: Shirina Granmayeh
Thea: Claudia Waldherr
Hänschen: Robin Jentys
Ilse bzw. Otto: Jakob Pinter
Robert: Haris Ademović
Der vermummte Herr: Claudia Waldherr
In weiteren Rollen: Ensemble

Regie: Thomas Birkmeir
Bühnenbild: Andreas Lungenschmid
Kostümbild: Irmgard Kersting
Licht: Lukas Kaltenbäck
Dramaturgie: Gerald Maria Bauer
Assistenz und Inspizienz: Viktoria Klampfl
Hospitanz: Natalie Ogris
Aufführungsrechte: Theater der Jugend, Wien

Wann & wo?

Bis 26. April 2023
Renaissancetheater: 1070, Neubaugasse 36
Telefon: 01 521 10-0
tdj -> fruehlings-erwachen

Zu einem Trailer geht es hier

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Frühlings Neuerwachen

Eine ewig dauernde Kindertragödie frei nach Frank Wedekind
Eine Produktion von MERT Theater in Kooperation mit WERK X-Petersplatz

Textbearbeitung: Florian Gantner
Inszenierung, Regie und Dramaturgie: Anna Erdeős
Es lesen/spielen
Melchior: Hannes Leo Wagner-Farber
Thea: Elisabeth Tesch
Martha: Inge Kolm
Wendla: Hildegard Zadrazill
Roberta: Agnes Zaunegger
Ilse: Nilüfer Borovali
Moritz: Beytur Deniz Borovali
Musik: Stefan Thaler
Bühne: Mihály Taksás

Wann & wo?

Bis 9. April 2023
Werk x-Petersplatz: 1010, Petersplatz 1
werk-x-petersplatz -> Frühlings Neuerwachen