Bewegte und bewegende Inszenierung von Ilse Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“ im NÖ Landestheater in St. Pölten.
Kinderspiele – Verstecken, Krippenspiel, ein (riesiges) Papierschiff falten, über Landkarten segeln, hoch und höher schaukeln … – und doch liegt über all der spielerischen Leichtigkeit ein Hauch von Düsternis, gepaart mit sarkastisch wirkenden Sprachspielen. Den immer näher kommenden Hauch des Todes, den die Kinder seinerzeit erst erahnten, dann immer näher kommend verspüren mussten, hatte Ilse Aichinger in ihrem Roman – viel zu wenig bekannten – „Die größere Hoffnung“ (erste Fassung 1948, von der Autorin selbst überarbeitete 1960) in Worte gefasst. Diesen Mix aus immer näher kommender Katastrophe, die nach und nach Kinder mit „falschen Großeltern“ aus dem Kreis der Freund:innen holten mit doch noch immer teils heiterem (Kinder-)Spiel gibt es seit Kurzem – und leider viel zu selten – in einer sehr bewegten und bewegenden Bühnenversion im niederösterreichischen Landestheater St. Pölten.
Die freie Regisseurin Sara Ostertag hat mit der Haus-Dramaturgin Julia Engelmayer behutsam, praktisch nur aus Originaltexten– samt Einhaltung der Kapitelabfolge – und genau im Sinne und Stile Aichingers die Spielfassung erarbeitet. Die rhythmische Sprache des Romans hebt die phasenweise auch direkt ins Schauspiel eingebettete Musikerin Mira Lu Kovacs hervor, unterstreicht sie – ob auf der Bühne oder die meiste Zeit in der Loge rechts von der Bühne (vom Publikum aus gesehen) in einer Art Studio; besonders auffällig dabei, wenn sie mit einem Geigenbogen die Gitarrensaiten streicht.
Dass das Versteck-Spiel auf dem Friedhof stattfindet, ist nicht nur Metapher dafür, dass viele dieser Kinder in absehbarer Zeit massenweise ermordet werden, sondern spricht auch an, dass sie als Jüd:innen in Parks nicht spielen durften. Diese Episode hatte Aichinger in einem kurzen Prosastück „Das vierte Tor“ schon Anfang September 1945 im „Wiener Kurier“ veröffentlicht – und hat sie in der Folge zum Kapitel „Das heilige Land“ im Roman ausgebaut. In der kurzen Urversion hatte sie unter anderem die Frage an die Kinder eingebaut: „Ja, habt ihr denn gar keine Angst vor den Toten?“ mit der schlagfertigen, erschütternden Antwort: „Die Toten tun uns nichts!“
Ob Herbergs-Suche im Krippenspiel oder spielerischer Streit mit dem Konsul um ein Visum für das Entkommen, ob Schaukeln auf alten an Ketten hängenden metallenen Booten (übrigens original aus dem Jahr 1948) – natürlich wissen alle, die das Stück heute anschauen – ebenso wie die Autorin es zum Zeitpunkt des Schreibens wusste, dass für die meisten dieser Kinder ihr eigener viel zu früher Tod oder jedenfalls der Verlust vieler ihrer Verwandten am Ende stand. Und dennoch strahlen diese Kinder, die von den erwachsenen Schauspieler:innen sehr glaubhaft verkörpert werden, zumindest eine trotzige Lust am Spiel aus. Immer wieder auch mit einem kräftigen Schuss Sarkasmus.
Dazu zählt sicher auch der Streit zwischen Julia, die ein Visum für die Schiffs-Passage in die USA bekommen hat und Ellen, die bleiben muss. Erstere wirft Zweiterer vor, sie darum zu beneiden, weil sie das „größere Abenteuer“ haben werde. „Das größere Abenteuer werde ich haben!“, kontert Ellen.
Einerseits, um sich vielleicht selber – trotz alledem – noch etwas Mut zu machen, andererseits, tiefschürfende Wahrheiten zu erkennen – und „nebenbei“ ein Wort- und Gedankenspiel kommt treffend im folgenden Zitat zum Ausdruck:
„Die geheime Polizei hat Angst.“
„Klar“, sagte Anna. „Die geheime Polizei ist Angst, lebendige Angst – weiter nichts.“ Der Glanz in ihrem Gesicht vertiefte sich.
„Die geheime Polizei hat Angst!“
„Und wir haben Angst vor ihnen!“
„Angst vor der Angst, das hebt sich auf!“
Natürlich geht’s unter den Kindern auch nicht immer nur harmonisch zu, Streit, wer welche Rolle im Krippenspiel übernehmen darf oder Debatten darüber, was der Stern bedeutet. Während die einen ihn schon als Zeichen des Todes deuten, will ihn Ellen eher als Auszeichnung betrachten. Diese Protagonistin Ellen wird übrigens immer wieder von einer anderen Schauspielerin (Caroline Baas, Bettina Kerl, Julia Kreusch, Laura Laufenberg) dargestellt – ohne aber je zu verwirren. Die vier schlüpfen – ebenso wie ihre Kollegen Tobias Artner, Lennart Preining und Michael Scherff – jeweils in viele Rollen – nicht nur der Gruppe der spielenden Kinder, sondern auch in die von Erwachsenen, wie Ellens Mutter, Großmutter, Vater, Konsul, Soldat, Verkäuferin und weitere.
„Bin ich ein Fremder, weil mein Haar schwarz und gekraust ist, oder seid ihr Fremde, weil eure Hände kalt und hart sind? Wer ist fremder, ihr oder ich? Der hasst, ist fremder, als der gehasst wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen!“
Aus dem Roman „Die größere Hoffnung“ von Ilse Aichinger
Hat Aichinger – und damit die Bühnenversion – natürlich den Holocaust und in dem Fall vor allem dessen frühe Auswirkung auf Kinder im Fokus, so deutet das Stück – mehr noch als auch schon der Roman – eine darüber hinaus reichende Gültigkeit an. Die „falschen“ Vorfahren zu haben, ein Visum nicht zu kriegen, jene, die es kriegen, kommen davon, die anderen müssen bleiben… Kinder, die selbst unter heftigsten Bedingungen spielen wollen und können – und dadurch vielleicht trotz der Ahnung und des Wissens um ihren eigenen viel zu frühen Tod „größere Hoffnung“ versprühen, oder wenigstens möglich erscheinen lassen.
von Ilse Aichinger
In einer Fassung von Sara Ostertag und Julia Engelmayer
Georg / Konsul / Schießbudenbesitzer / Soldat / Jan: Tobias Artner
Ellen / Bibi/ eine Mutter / ein Junge: Caroline Baas
Ellen / Ruth / Julia / Großmutter: Bettina Kerl
Ellen / Hanna / Anna / Verkäuferin: Julia Kreusch
Ellen / Tochter des Hausbesorgers: Laura Laufenberg
Leon / ein Kind / Soldat / Jan: Lennart Preining
Herbert / Ellens Vater / Wächter / Kutscher / Soldat / Jan: Michael Scherff
Schauspielende Live-Musikerin: Mira Lu Kovacs
Inszenierung: Sara Ostertag
Bühne: Nanna Neudeck
Kostüme: Prisca Baumann
Chorleitung: Verena Giesinger
Dramaturgie: Julia Engelmayer
Mitarbeit an der Stückfassung: Anita Buchart
Regie-Assistenz: Marco Honeder
Ausstattungs-Assistenz: Verena Sophia Geier
Dramaturgie-Assistenz: Rick Lupert, Theresa Jarczyk
Soufflage: Doris Strasser
Inspizienz: Paul Goga
Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
12. Jänner 2024
10., 14. Februar 2024
2. März 2024 (zum letzten Mal)
Landestheater Niederösterreich: 3100 St. Pölten, Rathausplatz 11
Telefon: 0 2742 90 8080 600
landestheater -> die-größere-hoffnung
Gastspiel in Baden
3. April 2024
Bühne Baden: 2500 Baden, Theaterplatz 7
Telefon: 0 2252 22 5 22
Bühne Baden -> Die größere Hoffnung
Text: Ilse Aichinger
Die größere Hoffnung
+ das Vierte Tor – Zeitungsartikel (1. September 1945) als Vorstufe zum Roman
+ Rede an die Jugend, März 1988 – Dankesrede für den von einer Schüler:innen-Jury verliehenen „Weilheimer Literaturpreis“
272 Seiten
Fischer Verlage
Gebundenes Buch: 28 €
Taschenbuch: 16 €
eBook: 9,99 €
Zu einer Leseprobe (12 Text-Seiten) geht es hier