„Lüg mich an und spiel mit mir“, eine Fortsetzung von „Pension Europa“ aus dem Jahr 2014 von Martin Gruber und dem aktionstheater ensemble durchleuchtet die vielen Krisen unserer Welt, Untiefen des Alltags und fordert die Grenzen des Sagbaren nun auch in Wien heraus.
Skurril. Wild. Laut. Schräg. Gegen Ende einleuchtend. Das sind meine ersten, zusammenfassenden Eindrücke nach knapp mehr als einer dichten Stunde von „Lüg mich an und spiel mit mir“, der jüngsten Produktion von Martin Gruber und dem aktionstheater ensemble im Werk X-Meidling.
Eine kreisrunde, schneeweiße Scheibe auf dem Boden, eine halbrunde Wand mit Gucklöchern, Instrumente und eine ansonsten leere Bühne empfängt sechs verunsichert und verwirrt dreinblickende SchauspielerInnen. Vier Frauen und zwei Männer kreiseln recht armselig und nur in Unterwäsche gekleidet über die Bühne. Ausgestattet mit einem Plastikstuhl suchen sie alle ihren Platz. Hin und Her. Vor und zurück. Anweisungen folgend, platzieren sie diese mal da, mal dort. Doch scheinbar nie dorthin, wo sie hingehören. 70 Minuten lang geht das so. Gelegentlich kommen die Suchenden zur Ruhe, sitzen jedoch so unruhig, dass man sie lieber wieder auf die Suche nach einem passenden Ort schicken würde. Vorausgesetzt natürlich, es gibt einen solchen Ort.
… entspannen und bescheren innere Ruhe. „Das Theater taugt zurzeit aber zu nichts. Im Moment sehr schwierig“, sagte bald zu Beginn und immer wieder mal zwischendurch eine der Schauspielerinnen, Babett Arens. Schweizer sind mit ihrer Neutralität und ihrem überteuerten Kaffee unsympathisch. Die Schweiz demnach ein Nazi-Regime. Obwohl angesichts der Tatsache, dass der schweizerische Präsident immer nur EIN Jahr im Amt ist, können sie vielleicht doch nicht Nazis sein. Wir sind die schlimmeren Nazis. 90 % aller Österreicher sind Nazis. Ok, so hoch wird der Anteil der Nazis in Österreich wahrscheinlich nicht sein. Realistischer gesehen könnte er zwischen 70 und 80 % liegen. Wissenschaftlich-fundiertes Faktum sei jedoch, dass 70 % aller Menschen Pornos schauen. Pornoseiten sollte man hacken und mit einer ukrainischen Flagge versehen als Zeichen der Solidarität und des Widerstands. Österreich ist eine Wahldemokratie. Der Arabische Frühling sei Auslöser aller Kriege. Facebook-Beiträgen kann man immer vertrauen und Sibirien ist eine an den Sternen nah gelegene endlose weiße Fläche. Die Phrasen und Floskeln werden wie Jonglierbälle in den Raum geworfen. Irgendwer fängt sie schon auf. Meistens.
… hört man nicht nur die DarstellerInnen an diesem Abend schreien, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch das eigene Gehirn. Atemlos springt das Ensemble von einem Thema zum anderen.
Michaela Bilgeri hat als Kind ihren türkischen Nachbarn mit einer Luftdruckwaffe abgeschossen. Unabsichtlich und nicht, weil er Türke ist. Sie hat viele türkische Freunde. Sie gibt sich immer als die Weltoffenen, Engagierte. Außerdem meinten einige zu ihr, sie könne mit ihrem Aussehen aus der Türkei stammen. Auch wenn sie den Namen ihrer Kollegin auf der Bühne Zeynep Alan nicht nur meist nicht aussprechen kann, sondern ihn sich oft nicht merkt und sie mit Alev anspricht. Weil in „Pension Europa“ aus dem Jahr 2014 an welches das jetzige Stück sozusagen andockt, Irmak statt Alan gespielt hat.
Luzian Hirzel übt, wie man sitzen kann, um als Hetero-Mann wahrgenommen zu werden, verteilt Zuckerschlangen und ruft zu Empathie- und Atemübungen auf.
Babett Arens findet Morde ästhetisch und startet ein österreichische-schweizerisches „Füdeli“-Duell. David Kopp schluckt seine Wut zu oft hinunter, läuft beim Erzählen von Erlebnissen rot an, bewundert Frauen für ihre Ruhe und lebt in einer Diktatur mit sich selbst. Zeynep Alan wirkt kindlich, zupft an ihrer Kleidung, träumt von einer Menschenkette nach Kiew und wird als Erste (kunst-)blutig geschlagen von Tamara Stern.
Diese darf nur um 17 Uhr und keine Minute später das übliche Mahl zu sich nehmen, beißt David blutig und gesteht dem Publikum unter Tränen und mit blutverschmiertem Gesicht, dass sie ein schlechter Mensch ist. Und wirkt authentisch brutal – nicht nur körperlich, auch verbal. Derbe Schimpfkanonaden gegen alle und alles. Kaum zu glauben, wenn du sie im echten Leben siehst und hörst.
Zu den sechs Schauspieler:innen gesellen sich vier Musiker: Dominik Essletzbichler (E-Gitarre und Gesang), Daniel Neuhauser (Schlagzeug), Gidon Oechsner (E-Gitarren) und Daniel Schober (Kontrabass) sorgen mit rhythmischen Nummer und gesungenen oder gesummten Liedern mal für Untermalung, dann wieder für Gegengewicht, mitunter auch für sehr eigenständige Beiträge im bunten Strauß der eher tristen Themen. In die Schauspiel- und musikalischer Spielwitz immer wieder auch humorvolle Momente einbringt.
Ukraine Krieg, Covid, queer Identity, diverse Rassismen, Aggressionsprobleme, Essstörungen, Diktatur, Widerstand und Demokratie bilden einen inhaltlich-thematischen Wirbelwind. Ein scheinbar nie endender Bewusstseinsstrom.
Spätestens im Herbst ist alles wieder beim Alten. Sie alle sehnen sich nach Entspannung. Versuchen mit Affirmationen eine positivere Zeit zu manifestieren. Schaffen es aber nicht. Wie denn auch. Wie kann eine Gruppe von Menschen, die so vielen Problemen, Krisen, Widersprüchen ausgesetzt ist, entspannen? Sie können einander nicht einmal ausreden lassen, verlieren den Faden, hören einander nicht wirklich zu, schimpfen laut und schlagen aufeinander ein.
Nichts verbindet sie. Nichts außer die Lügerei. Sie alle bauen im Laufe des Abends ihr eigenes Lügengebilde, rutschen hin und wieder aus und verfangen sich in noch größeren Lügen. Das ist aber gut so. Lügen verbindet, schafft Gemeinschaft. Man – auch frau – lügt alle 11 Minuten. Würde ausschließlich die Wahrheit gesagt, gäbe es viel mehr Tote. So eine These. Rein wissenschaftlich hält uns nur das Lügen zusammen.
Das Stück ist – wie immer beim aktionstheater ensemble in Zusammenarbeit von Mastermind und Regisseur Martin Gruber und den Schauspieler:innen entstanden. Viele ihrer persönlichen Stories, Erlebnissen und Gedanken sind stets Teil der Performance. Welche Geschichte zu wem gehört oder welche wirklich der Wahrheit entspricht und welche frei erfunden ist, erfahren ZuseherInnen nie. Sollten sie auch nicht. Tut auch nichts zur Sache.
Realität wird in unserem Gehirn auf Grundlage unseres Vorwissens und unserer Erfahrungen geschaffen – diese beeinflussen dann, wie wir die Welt sehen, wahrnehmen und verstehen. Die Wahrheit einiger kann jedoch für andere nichts mehr als eine hartnäckige Illusion sein.
Oder wie es der Philosoph und Kommunikationswissenschafter Paul Watzlawick („man kann nicht nicht kommunizieren“) im Vorwort zu seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ formulierte: „Der Glaube, dass die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeute, (ist) eine gefährliche Wahnidee“.
Der Theaterabend in Meidling – die erste Aufführungsserie ging wie fast immer in Vorarlberg über die Bühne, diesmal des Landestheaters – ist auf skurrile Art und Weise unterhaltsam und anstrengend zugleich. Oft wusste ich nicht, wie ich am besten reagiere bzw. welche Reaktion angemessen ist. Die Mehrheit aller Aussagen fühlt sich wie ein Test an. War das politisch korrekt? Geht man nicht ein wenig zu weit? Ist es in Ordnung, dass ich das ein wenig lustig finde? Was ist richtig und falsch?
Nach 70 Minuten endet das Stück fast genauso, wie es angefangen hat. Mit Suchenden. Nur tanzen alle sechs mit ihren Sesseln auf einer mittlerweile blutbefleckten kreisrunden Bühne umher in der Hoffnung, ihren Platz und die mit ihm einhergehende Entspannung – in der Welt (?) zu finden.
Fatima Kandil
@fatimemoires
Mitarbeit: Follow@kiJuKUheinz
Pension Europa 02
aktionstheater ensemble
Konzept, Inszenierung: Martin Gruber
Text: Martin Gruber und Ensemble
Es spielen: Zeynep Alan, Babett Arens, Michaela Bilgeri, Luzian Hirzel, David Kopp, Tamara Stern
Live-Musik: Dominik Essletzbichler (E-Gitarre und Gesang), Daniel Neuhauser (Schlagzeug), Gidon Oechsner (E-Gitarren), Daniel Schober (Kontrabass)
Dramaturgie: Martin Ojster
Bühne, Kostüm: Valerie Lutz
Video: Resa Lut
Regieassistenz: Michaela Prendl
Licht: Arndt Rössler
Eine Produktion des aktionstheater ensemble in Koproduktion mit dem Bregenzer Frühling der Landeshauptstadt Bregenz und dem Vorarlberger Landestheater. In Kooperation mit Werk X – Meidling.
Bis 8. Juni 2022
Werk X Meidling: 1120, Oswaldgasse 35a
Telefon: 01 535 32 00-11