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Szenenfoto aus "Die Scham" von Anne Ernaux in der "Dunkelkammer" des Wiener Volkstheaters
Szenenfoto aus "Die Scham" von Anne Ernaux in der "Dunkelkammer" des Wiener Volkstheaters
02.11.2022

Rückblick auf eigene Entwicklung plus sich entwickelnde Fotos in der Dunkelkammer

“Die Scham” der Literatur-Nobelpreisträgerin Anni Ernaux in einer – schon lange davor geplanten – spannenden Inszenierung mit gleichzeitiger Entwicklung von Fotos eines jungen Mädchens in der „Dunkelkammer“ des Wiener Volkstheaters.

Dieser Raum des Volkstheater wird bei dieser Inszenierung seinem Namen echt gerecht. „Dunkelkammer“ heißt der im obersten Stock des Trakts an der Neustiftgasse gelegene Saal für fast intime Stücke für wenige im Arena-Halbrund sitzende Zuschauer:innen. Hier war unter anderem die wort-gewaltige „Zertretung“ von Lydia Haider im Frühjahr zu erleben. Und nun, die – nicht wortmäßig, aber die Wirklichkeit umkreisend beschreibende nicht minder gewaltige „Die Scham“. Geschrieben von Annie Ernaux, die vor kurzem mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. 

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Scham“ von Anne Ernaux in der „Dunkelkammer“ des Wiener Volkstheaters – die Fotokünstlerin belichtet die Negative einer Fotoserie, die sie im Sommer mit der zehnjährigen Alva Kerlin aufgenommen hat

Schon im Sommer Fotoserie

Das Volkstheater hat nicht spontan reagiert, um den Medien-Hype zu nutzen, die Inszenierung von „Die Scham“ war schon lange geplant. Den Text – gekürzt aus der Übersetzung des Originals (Sonja Finck, Suhrkamp Verlag) – erweckt die Schauspielerin Friederike Tiefenbacher zum Leben (Regie und Bühne: Ed. Hauswirth). Schon im Sommer hatte die Fotokünstlerin Franzi Kreis die zehnjährige Alva Kerlin fotografiert – und dabei versucht die Bilder motivmäßig und ästhetisch ins Frankreich der 50er Jahre zu versetzen.

Sie agiert parallel und abwechselnd mit der Performance des Textes durch die Schauspielerin in der zur wahrhaften Dunkelkammer werdenden „Dunkelkammer“. Zieht große Fotopapier aus dem lichtdicht verschlossenen Karton, fixiert sie an der Hinterwand, belichtet die Negative, bestreicht sie mit Entwicklerflüssigkeit – aber nicht mit der Fixierlösung. Weshalb die Bilder an den Wänden (noch) nicht fixiert sind. Und deswegen auch kein anderes als das rote Licht einer Dunkelkammer scheinen darf. Die Assoziation zu Schamesröte ist ein nicht unabsichtlicher Gedankengang der in den Bann ziehenden Inszenierung.

Und die Parallelität, dass eine Erwachse – nicht nur textlich, sondern auch auf Bilder, die sich entwickeln in der Phase ihrer Entwicklung vom Kind zur Jugendlichen – (zurück) blickt ist ein ziemlich genialer Regie-Einfall.

Szenenfoto aus
Szenenfoto aus „Die Scham“ von Anne Ernaux in der „Dunkelkammer“ des Wiener Volkstheaters – die Fotokünstlerin in Aktion – mit Geräten und Materialien einer echten Dunkelkammer

Auf ewig verfolgt

Parallel erzählt die Schauspielerin den (übersetzten) Text der Autorin über den Mordversuch ihres Vaters an ihrer Mutter. Und die fast absurd anmutenden folgenden Stunden des gemeinsamen Radausflugs zu dritt. Sowie die jahrelange Umkreisung Ernaux‘ dieses erschütternden Erlebnisses. Ohne den Vater allein zu verurteilen. Was vielleicht viel einfacher (gewesen) wäre. Aber da ist auch der liebende Vater, und auch die Mutter nicht gerade frei von Aggressionen. Die liebevoll geschilderte Reise mit ihm nach Lourdes – und damit Blicke und Erlebnisse über das kleine Dorf hinaus. Aus dieser Ambivalenz ergibt sich ihre – dem Roman den Titel gebende „Scham“, dem nie Fertig-werden mit diesem Juni-Sonntag des Jahres 1952.

Scheinheiligkeit

Die plastische Beschreibung Ernaux‘ der von der Mutter und der Privatschule hochgehaltenen Allmächtigkeit der katholischen Religion und die selbstverständliche Unterwerfung unter diese darf natürlich nicht fehlen. „Die Ehrfurcht vor den religiösen Praktiken, Beichte und Kommunion, scheint wichtiger zu sein als die Aneignung von Wissen: Man kann nur Einsen haben und Gott trotzdem nicht gefallen.“

Die Scham der Autorin bezieht sich aber nicht nur auf diesen furchtbaren, einprägenden Sonntag, sondern auch auf die sozialen Verhältnisse der Familie, das nicht zu den höher gestellten Personen zugehörig – wie sie es vor allem auf der Gruppenreise mit dem Vater immer wieder schildert. „Nichts kann ungeschehen machen, dass ich diese Schwere, diese Erfahrung der Nichtung empfunden habe. Die Scham ist die letzte Wahrheit. Sie vereint das Mädchen von 52 mit der Frau, die dies jetzt gerade schreibt.“ (S. 103 der deutschen Fassung von 2020; im Original auf Französisch erstmals 1997 erschienen.)

Die Scham wurde für mich zu einer Seins-Weise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden.

Weitere Entwicklung schwärzt

Am Ende wenn die Tür aufgeht, strömt Licht herein, die Fotopapiere dunkeln rasch nach, schwarze Streifen verdecken das Portraitfoto des Mädchens. Kreis und ein Helfer überpinseln rasch die Licht-sensiblen Papiere mit Fixier-Flüssigkeit. Und doch werden bei jeder Vorstellung andere Bilder entstehen – die im kommenden Jahr in einer Wiener Galerie ausgestellt werden – siehe Infoblock.

Titelseite des Buches
Titelseite des Buches „Die Scham“ von Annie Ernaux

Über das Buch

Die vorherige Lektüre des Buches (Suhrkamp Verlag – Details siehe Info-Block) ermöglicht die stärkere Konzentration auf die szenische Umsetzung. Aber auch die nachträgliche Lektüre kann reizvoll sein. Kern und die Stimmung des kurzen Romans (ca. 100 Seiten) wird zwar mit dem Abend ausgezeichnet vermittelt, aber das Buch enthält noch viele detaillierte geschilderte Erinnerungen – und immer wieder auch die Einordnung des Erlebten in die Zeit durch Beschreibung oder Nennung historisch gleichzeitiger Ereignisse, aber auch der herrschenden – gewalttätigen – Erziehungsmethoden. 

Zeithistorische Einordnungen

Den (welt-)historischen Zusammenhang stellt Ernaux in „Die Scham“ auch für den Sommer 1996 her, in dem sie „über diesen Text nachzudenken begann“. Denn da „schlug eine Mörsergranate auf dem Markt von Sarajevo ein, tötete mehrere Dutzend Menschen und verletzte Hunderte. In der Zeitung schrieb jemand, »ein Gefühl der Scham« hätte uns »gepackt«. Für solche Leute ist die Scham etwas, was man an einem Tag empfinden kann und am nächsten nicht, was man auf eine Situation anwendet (Bosnien), auf eine andere nicht (Ruanda). Das Blut auf dem Markt von Sarajevo ist längst vergessen.

In den Monaten, während ich an diesem Buch geschrieben habe, bin ich jedes Mal hellhörig geworden, wenn ich auf etwas gestoßen bin, was einen Bezug zu 1952 hatte – einen Film oder ein Buch, einen Künstler, der in dem Jahr gestorben ist. Mir war, als bestätigte all dies die Wirklichkeit jenes weit zurückliegenden Jahres, die Wirklichkeit meines kindlichen Ichs.“

Die Autorin reflektiert aber auch, ob ihr Psychoanalyse geholfen hätte, schlussfolgert, dass sie sich davon nichts versprochen habe/hätte, weil sie selbst schon ihre Schlüsse gezogen hat (Seite 14), sie sich aber als die Frau, die alles reflektiert und das Buch schreibt, sich aber dennoch nicht in das Mädchen von 1952 hineinversetzen könne (Seite 29).

Übers Bücher-schreiben

„Ich habe schon immer Bücher schreiben wollen, über die ich anschließend unmöglich sprechen könnte, Bücher, die den Blick der anderen unerträglich machen. Doch wie könnte das Bücherschreiben eine größere Scham in mir auslösen als jene, die ich mit zwölf Jahren empfunden habe.“ (S. 110)

Follow@kiJuKUheinz

INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Die Scham

von Annie Ernaux
Deutsch von Sonja Finck und für die Bühne bearbeitet von Matthias Seier

Schauspielerin: Friederike Tiefenbacher
Live-Foto Installation und Fotolabor: Franzi Kreis
Mädchen auf den Fotos: Alva Kerlin

Regie und Bühne: Ed. Hauswirth
Kostüm: Mona Ulrich
Musik und Sounddesign: Florian Kmet
Dramaturgie: Matthias Seier

Wann & wo?

Bis 26. November 2022

V°T Dunkelkammer: 1070, Neustiftgasse
Kartenservice: 01 52 111-400
volkstheater -> die-scham

Ausstellung der Fotos von Franzi Kreis

Ab 26. Jänner 2023
Galerie Lukas Feichtner
1010, Seilerstätte 19
Telefon: 0676 33 87 145

feichtnergallery

Franzi Kreis

Das Buch

Test: Annie Ernaux (Literaturnobelpreis 2022)
Die Scham
ca. 102 Seiten
Suhrkamp Verlag
Gebundenes Buch: 19 €
Taschenbuch: 11,95 €
eBook: 10,99 €
Hörbuch (ungekürzt mit Corinna Kirchhoff): 17, 39 €

Zu einer Leseprobe (ca. 20 Seiten) geht es hier