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Neues Szenenfoto aus "Ancestor’s Gift" von ATASH عطش contemporary dance company
Neues Szenenfoto aus "Ancestor’s Gift" von ATASH عطش contemporary dance company
15.10.2023

Tanzend traumatische Rucksäcke der Ahn:innen ablegen

„Ancestor’s Gift“ (Geschenk der Vorfahren) über die Last dessen, was wir mitkriegen, feierte beim Puls-Festival im Dschungel Premiere – und ist noch zu sehen.

Wunderschön anzuschauen, phasenweise aber sehr heftig, bedrohlich, sind nicht nur die Bewegungen der drei Tänzer:innen in „Ancestor’s Gift“ (Geschenk der Vorfahren). Das rund einstündige Stück (Konzept und Leitung: Ulduz Ahmadzadeh und Till Krappmann) das im Rahmen des Puls Festivals im Dschungel Wien kürzlich Premiere feierte und – im Gegensatz zu den anderen Produktionen – noch weiter zu erleben ist, ist ein Gesamtkunstwerk mit leider wieder besonders aktuellem Hintergrund.

Du kannst richtiggehend versinken in die perfekten, leichtfüßigen, immer wieder auch akrobatischen, fließenden Tänze von Desi Bonato, Naline Ferraz und Xianghui Zeng. Sie berühren, selbst wenn du den Hintergrund nicht kennst und auf den Text nicht achtest. Und sie rütteln dich durch, denn Naline Ferraz als Jugendliche, die ein unbeschwertes Leben zu führen scheint zwischen Apfel frisch vom Baum und gemütlich Bücher lesen wird nachts von Albträumen geplagt. Martialisch und furchterregend tanzen Desi Bonato und Xianghui Zeng als Altvordere, Vorfahr:innen – wenngleich nicht unbedingt die eigenen. Düsteres, existenzbedrohende Kämpfe, Krieg(e) tauchen als Assoziationen auf.

Neues Szenenfoto aus
Neues Szenenfoto aus „Ancestor’s Gift“ von ATASH عطش contemporary dance company

Die Last der „Mitgift“

Und so ist es auch gedacht. Die schon genannte Co-Leiterin des Stücks und ihrer zeitgenössischen Tanzgruppe ATASH عطش wird im pädagogischen Begleitmaterial dazu so zitiert: „Ich habe meine Kindheit im Krieg verbracht, bis ich acht Jahre alt war. Was ich erlebt habe, war jahrelang in mir vergraben und ich habe es sogar als harmlos verdrängt. Bis ich erfuhr, dass dies offenbar ein typischer Schutzmechanismus für Traumatisierungen ist. Als Mutter von drei Kindern habe ich mich verstärkt mit der transgenerationalen Weitergabe von Kriegsfolgen beschäftigt. Dieses Thema war der Ausgangspunkt für unser neues Stück Ancestors‘ Gift.“ (Ulduz Ahmadzadeh)

In diesen nächtlichen Albtraumphasen ist die Bühne (Szenografie: Till Krappmann) nicht nur sehr dunkel, zum Start der Albträume gehen noch von der Decke hängende Lampen mit blutroten Lichtern der Reihe nach an und erzeugen damit Grusel-Atmosphäre, aber nicht Halloween-mäßige, sondern bitterernste. „Ancestor’s Gift“ ist – wie schon oben erwähnt – ein Gesamtkunstwerk – obwohl das natürlich für die meisten Produktionen gilt, hier besonders. Über der Bühne und damit den Tänzer:innen hängen Hunderte Objekte, die irgendwie rätselhaft wirken. Sind es Blumen? Vögel? Wölkchen? Alles nicht, aber was dann?

Neues Szenenfoto aus
Neues Szenenfoto aus „Ancestor’s Gift“ von ATASH عطش contemporary dance company

Wirbel, Rückgrat, Rückenmark

Auch hier hilft der Blick in das schon erwähnte Begleitmaterial auf der Dschungel-Wien-Homepage (in der Infobox verlinkt, wobei’s dann leider nicht direkt zu den einzelnen Materialien geht, sondern durchgesucht werden muss). Demnach sind diese leichten, schwebenden Objekte Querschnittsbilder menschlicher Wirbel. „Es sind in gewissermaßen die materiellen Überreste unserer Vorfahr:innen und bilden gleichzeitig unser Rückgrat … In der Wirbelsäule verläuft auch unser zentrales Nervensystem, das jegliche sinnlichen Eindrücke an unser Gehirn weiterleitet, wo diese anschließend verarbeitet werde. Ein Trauma ist eine Überforderung der Sinneswahrnehmungen und demnach unmittelbar mit unserem Nervensystem und der Wirbelsäule verbunden. Die hängenden Wirbelquerschnitte sollen ebenso die Überreste unserer Vorfahr:innen symbolisieren, die uns unser gesamtes Leben beeinflussen und wie eine Wolke über uns wachen und uns begleiten. Es soll hierbei gesagt sein, dass die Objekte sehr abstrakt aussehen und sehr schön zum Ansehen sind und keine angsteinflößenden Elemente sind!“

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Neues Szenenfoto aus „Ancestor’s Gift“ von ATASH عطش contemporary dance company

Projizierte Blutkörperchen

Aber nicht nur die schwebenden Wirbelteile über den Köpfen auch Projektionen reihen sich ins Gesamtbild ein: „Es werden mikroskopische Live- Aufnahmen von Blutkörperchen projiziert. Dies ist ebenso ein Eintauchen in die inneren menschlichen Strukturen. Es kann auch als eine Suche nach etwas Verborgenem gelesen werden, wie dieses „Etwas“, was wir durch die Generationen mitgegeben bekommen haben.“

„Ancestor’s Gift“ lässt natürlich die jugendliche Protagonistin nicht in den Albträumen steckenbleiben. Neben den Tag-Phasen an denen sie die Traumata offenbar als Überlebensstrategie verdrängt und doch fröhlich leben kann, legt sie Stück für Stück unheimliche Plastik-Puppenteile ihres Kostüms ab, gibt sie an die Ahn:innen zurück, legt Lasten ab, kann unbeschwerter ihre eigenen Wege suchen.

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Neues Szenenfoto aus „Ancestor’s Gift“ von ATASH عطش contemporary dance company

Kann auch bereichernd sein

Das Tanztheaterstück dreht sich aber auch um positive Connections zu Generationen davor bzw. das Bedauern, solche nicht rechtzeitig hergestellt zu haben. So bedauert die Protagonistin beim Tod des Opas, dass sie davor sich wenig mit ihm und seinem Leben beschäftigt hat.

Wir erleben auf der Bühne einen beeindruckenden Weg einer Protagonistin, die jedoch für alle Menschen stehen kann, sich einerseits von dem immer schwerer werdenden über Generationen weitergegebenen „Rucksack“ zu befreien und andererseits das Bemühen, diese Verbindungen überhaupt wahrzunehmen oder herzustellen. Zum Glück ist ja auch so manches, das wir übernehmen (können) eher bereichernd als belastend – auch eine Frage der sogenannten Geburtslotterie. Und ohne auch nur im Geringsten aufgesetzt zu wirken, tanzt das Trio ein ausgelassenes – ansteckendes – Happy End.

Neues Szenenfoto aus
Neues Szenenfoto aus „Ancestor’s Gift“ von ATASH عطش contemporary dance company

Textebene

Selbst wenn du den Hintergrund nicht kennst und auf den aus dem Off eingesprochenen Text nicht achtest, kannst du die Botschaft spüren. Dieser Text (Marek Zink) ist übrigens wunderschön poetisch, wenngleich mitunter das getanzte Bild verdoppelnd, wirkt insgesamt jedoch wie ein aufgesetzter pädagogisch motivierter Fremdkörper. In einer App ist er in verschiedenen Sprachen verfügbar – doch den Blick zwischen Smartphone und Tanz auf der Bühne pendeln lassen? Vielleicht hätte sich der Text verdient, extra davor oder danach gelesen zu werden?

Follow@kiJuKUheinz

INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Ancestor’s Gift

(Geschenk der Vorfahren)
Tanz-Performance; ab 14 Jahren; 50 Minuten; wenig Sprache (Deutsch; Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Chinesisch als Untertitel in einer App)
ATASH عطش contemporary dance company + Dschungel Wien

Künstlerische Co-Leitung, Konzept, Choreografie: Ulduz Ahmadzadeh
Künstlerische Co-Leitung: Konzept, Szenografie: Till Krappmann
Performance und Co-Kreation: Desi Bonato, Naline Ferraz, Xianghui Zeng
Text: Marek Zink
Komposition und Live-Elektronik: Adrián Artache
Choreografische Assistenz: Annelie Andre
Fachliche Beratung: Claudia Wielander
Produktion: Mascha Mölkner, Julia Haas

Ein Projekt in Zusammenarbeit mit ConnectUp, unterstützt durch das Creative Europe Programm der Europäischen Union. Mit freundlicher Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich. Dank an das Arts centre BUDA in Kortrijk und Tanzhaus Zürich.

dschungelwien -> begleitmaterial1

Wann & wo?

Bis 17. Oktober 2023
29. Februar bis 2. März 2024
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: 01 522 07 20-20
dschungelwienn-> ancestors-gift