Wanderung mit neu geschriebenen, uralt wirkenden Märchen von Michael Köhlmeier als Gastspiel einer Schweizer Gruppe beim Theaterfestival „Luaga & Losna“ in Vorarlberg.
Kopfhörer auf und raus aus der Stadt. Vom Saumarkttheater ausgehend, entlang des Flusses Ill auf dem stadtseitigen Ufer, rüber über die Brücke. Dort erste Begegnung mit einem ein wenig teuflisch wirkenden Schauspieler (Kostüm: Eva Butzkies), der aus dem Wald kommt. Freundlich begrüßt und zu lesen beginnt. Zwei kleine Leuchten erhellen das alt wirkende Buch aus dem er nach und nach im Verlauf von rund 1 ½ Stunden sehr alt, urtümlich, naturbezogene, archaische Geschichten vorliest. Doch „Die Märchen“ (fünf aus rund 150) wurden erst vor wenigen Jahren vom Lokalmatador und doch weit über die Grenzen Vorarlbergs hinaus bekannten Autor Michael Köhlmeier neu geschrieben. Im Stile uralter, mündlich überlieferter recht grausamer Erzählungen mit starken Bildern.
Das erste Lachen bleibt schon im Hals stecken, auch wenn der Vorleser und Erzähler Matthias Grupp, Leiter des Vorstadttheaters Basel, das mit dieser Märchenwanderung zum Abschluss des 34. Internationalen Theaterfestivals für junges Publikum namens „Luaga & Losna“ (schauen und hören), immer wieder Humor einbaut. Handelt die erste Geschichte doch von einem Buben und später in Zehn-Jahres-Schritten von Sebastian, der Grauenvolles erlebt und jedes Mal bereit ist, das eigene Leben zu geben, um beim ersten Mal die väterliche Gewalt gegenüber dessen Frau und Sebastians Mutter zu beenden. Der Gürtel als Mittel der ausgeübten Gewalt spricht zu Sebastian. Vom Leben des 13-Jährigen hätte er nichts, aber er können sein Spüren geben. Spätere Aggression eines jungen Mannes gegenüber der von Sebastian geliebten Maria bezahlt er mit dem Hörsinn … So kann er am Ende auch nichts sehen, riechen und schmecken. Reden könnte er gerade noch, aber …
Im nächsten Märchen lässt der Erzähler „Die Wilde“ lebendig werden, ein Wesen, das viele nicht einmal als Mensch bezeichnen wollen. Eine Frau, die als Baby allein im Wald – durch Zuwendung der Pflanzen und Tiere – überlebt, Teil dieses Biotops wird. Als die Menschen des Dorfes sie jagen und vernichten, rächt sich der Wald. Grausam. Aber waren zuvor die Menschen nicht noch viel grausamer?
Im Gewand eines uralten Märchens steckt da offenkundig mehr als ein aktuelles Bild. Gleiches gilt für die „wilde Jagd“ mit den apokalyptischen Reiter:innen (Regie: Gina Durler, Dramaturgie: Ueli Blum).
Die Abendvorstellung, die sich über weite Strecken im Dunkel am Rande des Waldes unterhalb des „Stadtschrofns“ am anderen Ill-Ufer hinter Musikschule und Altem Hallenbad abspielt, vermittelt noch zusätzliche Düsternis. Zurück über eine andere der Illbrücken geht’s mit der Geschichte von der Pest, personifiziert in einem blutrünstigen Bogenschützen.
Am Ufer des reicheren Stadtteils des oberbayrischen Bichl freuen sich die Bürger:innen, dass sintflutartige Regenfälle den Fluss so hoch steigen lassen, dass der Bogenschütze nur im ärmeren Teil wüten kann. Als jedoch der Regen aufhört, beten sie: „Bitte lösch die Sonne aus, sonst kommt zu uns die Pest ins Haus“. Dies singt der Erzähler, der schon zuvor bei anderen Märchen – genial von seinem Bruder Florian Grupp auf in einer Art Salettl am Waldrand aufgebauten Keyboards musikalisch unterstützt, begleitet bzw. in musikalischen Soli gespenstische Atmosphäre verbreitend – als gesanglicher Performer in Erscheinung getreten ist.
Das Pest-Märchen endet … – naja, die Moral von der Geschichte: Erst nachdenken, dann beten. Denn was passiert, wenn die Sonne verschwindet es kalt und immer kälter wird …?
Für sie sei Corona für dieses Stück ein glücklicher Zufall gewesen, erklären die Künstler:innen des Baseler Vorstadttheaters. Denn ursprünglich war’s als Indoor-Version geplant. Die Distanz-Vorschriften zwangen nach Draußen. Und bei der ersten Aufführung in einem Kreuzgang dieser Schweizer Stadt durfte es nicht laut sein, weshalb die Theaterleute auf die Version mit den Kopfhörern gekommen sind. Was nicht nur das Hören und Verstehen deutlich erleichtern, sondern auch das volle Eintauchen in die Geschichten fördert.
Sie hätten übrigens, erklärt der Schauspieler und Leiter des Vorstadttheaters Basel, kaum ein Wort aus Köhlmeiers Texten gekürzt. Und das stimmt beim Nachlesen. Und verwundert, dass der Autor doch so manch unlogisch geschrieben hat wie bei Sebastian Inwendig, der schon seinen Gehörsinn hergegeben hat und dennoch hört, wie Vergangenheit und Zukunft zu ihm sagten: „Hör zu, du Ärmster der Armen. Wir beide sind Geschwister … die auf ewig getrennt sind…“ Vielleicht lag’s an der Fülle der 151 erfundenen und manchmal sozusagen gecoverten/remixten Märchen?!
Compliance-Hinweis: KiJuKU wurde von Luaga & Losna zur Berichterstattung nach Feldkirch und Nenzing eingeladen.
Vorstadttheater Basel / Schweiz
Ein szenisch-musikalischer Spaziergang
Ab 12 Jahren
Regie: Gina Durler
Spiel: Matthias Grupp
Musik: Florian Grupp
Kostüm: Eva Butzkies
Dramaturgie: Ueli Blum
Samstag, 10. September 2022
Ab 20 Uhr; ca. 1 ½ Stunden
Startpunkt: Theater am Saumarkt: 6800 Feldkirch, Mühletorplatz 1