„Transit“, der Roman von Anna Seghers, leider noch immer aktuell, als nahe gehendes Stück im Theater Spielraum.
„Tote Seelen, die ihre wirklichen Leben in ihren verlorenen Ländern gelassen hatten, in den Stacheldrähten, in den Schlachtfeldern, in den Kerkern, in den verbrannten Städten. Wir sind die Abfahrtsbesessenen“, antwortet der Chor der Schattenfiguren in schwarzen Ganzkörper-Strumpfanzügen. Den Satz des zwar sichtbaren, aber auch „Namenlosen“ verstärkend, erweiternd. Der, ziemlich ziel- und planlos, hatte zuvor gesagt: „Tote Seelen, in der Überzahlt gegen die Lebenden.“
Die Geschichte – eine dramatisierte Fassung des Romans „Transit“ von Anna Seghers – spielt in Marseille im zweiten Weltkrieg. Menschen die vor den Nazis flüchten, die auch schon große Teile Frankreichs erobert haben, warten in dieser Küstenstadt auf die Freiheit und Zuflucht sichernde Schifffahrt nach Übersee. Und werden oft von den Behörden im Kreis geschickt bis sie endlich alle erforderlichen Papiere und Visa beisammen haben. Nicht selten ist dann die Gültigkeit früherer Papiere wieder abgelaufen, oder sie werden aus Konsulat bestellt Tage nachdem das Schiff auslaufen würde …
Fetzen, Puzzlestücke des Lebens einiger solcher hier gestrandeter Menschen schildert der Roman, den Annette Reiling, verheiratete Radványi mit Künstler:innen-Namen Anna Seghers 1944 (englisch und spanisch, deutsch: 1947) im mexikanischen Exil veröffentlichte. Die vor knapp vier Jahren (2018) in den Kinos gelaufene Verfilmung von Christian Petzold mit Bildern und Bezügen zum heutigen Marseille machte „Transit“ auch einer neuen, breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Aktuelle Bezüge gab’s und gibt’s ja leider mehr als genug. Auch wenn große Literatur oft zeitlos ist, wär’s bei manchen Themen ja echt besser, sie könnten dann nur mehr als historischer Rückblick betrachtet werden.
„Transit“ dreht sich weniger um Fluchtursachen – die kommen bruchstückhaft immer wieder vor -, sondern um diese oft schier unendlich lange dauernde Phase einer Zwischenwelt, des Waaaaarten-müssens, des Ausgeliefertseins den Schikanen von Bürokrat:innen, die Menschen mürbe machen, sie zerreiben. Wobei sie mitunter nicht einmal mehr die Kraft zum Protest, zur Auflehnung, ja oft nicht einem zur Verzweiflung haben.
Und genau das – samt der hin und wieder aufpoppenden Situationskomik oder des einen oder anderen Wortwitzes, Sprachspiels – vermittelt nicht nur der Text (Dramatisiert von Reto Finger), sondern auch die Inszenierung (Nicole Metzger) im kleinen, feinen Theaters Spielraum (Motto: „Wir nehmen Texte beim Wort“). Christian Kohlhofer spielt den „Namenlosen“, der einerseits durch Zufall an Transit-papiere eines Verstorbenen gelangt, andererseits aber schon so matsch zu sein, dass er gar nicht mehr weiß, ob er überhaupt (noch) weg will.
„Damals fing ich an, in Konsulatsfristen zu rechnen, eine Art von Planetenzeit, in der man irdische Tage für Millionen von Jahren setzt, weil Welten verbrannt sind, ehe das Transit abläuft“, resoniert „Der Namenlose“ einmal – und es fallen dir als Zuschauer auch Geschichten von Menschen in Wien ein, die versuchen mit der MA 35 in Kontakt zu kommen bzw. auf Bescheide von dort warten – in dem Fall nicht für einen Transit, sondern um hier bleiben zu dürfen und nicht etwa in ein Kriegsgebiet zurück müssen, oder in ein Land, das nicht wirklich ihre Heimat ist, weil sie hier geboren oder mindestens mehr als die Hälfte ihres Lebens aufgewachsen sind.
Den schon erwähnten „Chor“ in bis zur Unkenntlichkeit entstellten Ganz-Kopf-Strumpfmaksen – eine Herausforderung, auf die sich das Quartett für mehr als eineinhalb Stunden einlässt – spielen Veronika Petrović, Samuel Schwarzmann, Julia Sailer und Johannes Sautner. Hin und wieder dürfen sie Luft schnappen – als andere Figuren: Marie, die Begleiterin des Arztes und frühere Gefährtin des toten, dessen Papiere nun der Namenlose hat; als der besagte Arzt und in anderen Rollen sowie als Kind, Hilfskonsul, Beamter und Kapellmeister, Glatzkopf, Schauspielerin…
„Der Tag ist lang. Der einzelne Tag ist lang, wenn man nichts tut als warten. Doch all diese langsamen Tage sind plötzlich ein Haufen Zeit“, meint im letzten Drittel des Stücks Marie.
Die anonymisierenden – aber auch die anderen Kostüme – bis hin zu kleffenden Hunde(köpfen) hat sich Anna Pollack ebenso ausgedacht wie die Bühne. Mit ihren Leitern – an Wände gelehnt, aber auch auf dem Boden liegend und Seilen erinnert sie (nicht nur) aufs erste an ein Schiff. Auf solche, vielmehr auf die Erlaubnis, mit einem solchen der immer näher rückenden Verfolgung durch die deutschen Truppen – und ihre französischen Kollaborateure – zu entkommen, hoffen die „Transit“-ler:innen ja noch immer.
Doch die „Spielraum“-Haus-Bühnen- und Kostüm-Bildnerin hat sich, wie sie erzählt und in dem – wie immer rundum den Horizont erweiternden – Programmheft nachzulesen ist, weit mehr/anderes gedacht: „Das Leiterspiel“ ist ein Brettspiel mit Würfeln und einem serpentinenartigen Felder-Parcours. Über Leitern geht es schneller vorwärts, über Seile fällst du dafür viele Felder zurück. Pate für diese Brettspiele stand das (Jahrhunderte) alte indische Spiel Moksha Patamu (auch Gyan Chaupa). Dieses, so Pollack habe soziale/religiöse Bedeutung: Verkürzt gesagt: Aufstieg durch gute Taten, Absturz durch böse (wobei hier Schlangen statt Seile stehen).
Um im Stück in Richtung Konsulat und Papiere zu gelangen, müssen die Beteiligten – als Figuren und nicht als Chor – Schritt für Schritt durch die Felder der auf dem Boden liegenden Leiter trippeln. Die hernach aufgerichtet und gehalten wird, auf dass der Konsol hinaufsteige und von oben herab die Bittsteller:innen behandle.
Nur „Der Namenlose“ geht kreuz und quer und später einer der Gestrandeten, der aus einem polnischen Dorf kam, das nun zu Litauen gehört – womit er letztlich voll ohne gültige Papiere ansteht…
„Transit. Vergangenheit und Zukunft. Und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart“, intoniert der Chor knapp vor dem Ende – und verstärkt damit auch die teils skurrile, fast absurde und doch sehr nahegehende Art der Erzählung – im Roman und auf der Bühne.
nach dem Roman von Anna Seghers
Dramatisiert von Reto Finger (Verlag Gustav Kiepenheuer Berlin)
Inszenierung: Nicole Metzger
Cast
Der Namenlose: Christian Kohlhofer
Marie: Veronika Petrović
Strobel/ Georges Binnet/ Arzt: Samuel Schwarzmann
Patronne/ Kind / Hilfskonsul /Beamter/ Frau: Julia Sailer
Der Kapellmeister/ die Schauspielerin/ Achselroth/ der Glatzkopf: Johannes Sautner
Chor/ Hunde: alle
Bühne/Kostüm: Anna Pollack
Coaching: Ruth Biller
Licht: Tom Barcal
Abendtechnik: Daniel Leitner
Bis 5. Februar 2022
(Dienstags bis samstags)
Theater Spielraum: 1070, Kaiserstraße 46
Telefon: 01 713 04 60
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