23 ganz unterschiedliche, starke Texte Jugendlicher und junger Erwachsener zum Thema „Tempo“ beim zehnten Jugendliteratur-Bewerb „texte.wien“.
„Ich beginne meinen Arbeitstag, wie es das Protokoll besagt: Optimieren Sie Ihre Atmung. Beschleunigen Sie Ihr Denken… Ich arbeite im Ministerium für Informationsfluss, in der Abteilung für Textverdichtung. Unsere Mission ist es, jegliches entschleunigte Denken aus den Netzwerken zu entfernen. Wir sortieren Wörter, die zu lange brauchen, aus. Intern nennen wir das Entschleunigungsterrorismus, die größte Gefahr aller Zeiten, dicht gefolgt von der Mittagspause. Der Begriff wurde übrigens in Rekordzeit erfunden: 0,8 Sekunden.
Mein Kollege kaut zu langsam, sein Kiefer unterschreitet die vorgeschriebene Bissrate. Kein Wunder, dass zwei Wächter schon auf ihn zustürmen. Letzte Woche wurde jemand abgeführt, weil er beim Niesen eine halbe Sekunde zu spät Gesundheit gesagt hat. …
Mein Pacer piept leise. Warnstufe Gelb. Ich habe zu lange nachgedacht, wie gefährlich!…“
Diese Sätze stammen aus einem der 23 Finaltexte Jugendlicher bzw. junger Erwachsener des Literaturbewerbs Texte Wien. Zum zehnten Mal waren junge kreative Schreiber:innen – und das trotz des Namens nicht nur aus Wien – eingeladen, ihre Gedanken zu einem Jahresthema zu verfassen; rund 4000 junge Leute haben in diesem Jahrzehnt Texte für den Bewerb eingereicht. „Tempo“ war das Motto für den Jubiläumsbewerb. „Schneller atmen“ titelte Julia Bohrer aus dem Gymnasium Neusiedl am See ihren Beitrag, aus dem die Eingangspassage zitiert ist.
Zum zweiten Mal fand die Preisverleihung – immer mit genau zweiminütigen Textauszügen – gelesen von vier Profi-Schauspieler:innen (Zeynep Buyraç, Kaspar Locher, Markus Meyer und Maximilian Thienen) im Schauspielhaus Wien (davor viele Jahre – mit Ausnahme der Pandemie-Ära im Burgtheaterspielort Kasino am Schwarzenbergplatz) statt; jeweils untermalt von einer jugendlichen Band, heuer Leeta – mehr dazu in einem eigenen Beitrag.
Übrigens: Alle Texte, mit denen die jungen Autor:innen ins Finale gekommen sind, können auf der Homepage des Bewerbs – am Ende des Beitrages verlinkt – (nach-)gelesen werden, und zwar aus allen Bewerbsjahren bis 2016 zurück.
Der Text des aktuellen Siegers ist in einem eigenen Beitrag auch hier auf dieser Website – ebenfalls unten verlinkt – vollständig veröffentlicht: „Elfzwanzig“ von Philip Pecoraro, eine Hommage an den 12. Bezirk von Wien, übrigens ist Meidling einer von nur drei der 23 Bezirke, die den Bewerb – bisher – nicht unterstützen.
Auszüge aus dem zweit- und dritt-platzierten Text – „Sonne über dein Haupt“ von Theresa Schmerold sowie „Ein Haufen Kindheit“ von Bruna Karolyi – sind ebenfalls in eigenen Beiträgen unten verlinkt – die Top 3 jeweils auch mit den Begründungen der Jury (Judith Fischer, Erwin Greiner, Andrej Haring, Eva Holzmann, Julia Jost, Vanja König, Hanno Millesi, Lene Moormann und Jana Podbelsek).
Tempo, obwohl sich dies – wie im eingangs zitierten Beitrag – mit Rasanz in den meisten Köpfen fast automatisch verknüpft, kann aber auch das glatte Gegenteil sein. Und so kreisen so manche der jugendlichen Texte durchaus um Innehalten, ja sogar Stillstand.
„Ich lebte ein temporeiches Leben, das vom schnellen und dreckigen Geld finanziert wurde. Am Anfang tat ich es für die bunten Scheine, dann für die unantastbare Macht und letztendlich, um die Welt zu erobern. Ich hatte mich schon damit abgefunden, entweder Gefängnis oder Millionen. Doch das ewige Streben nach mehr zog mich in die Strömung eines Teufelskreises, in dem ich, ohne es zu bemerken, ertrank“, beginnt er Text von Arda Aksoy aus dem Schulzentrum Ungargasse (Wien-Landstraße).
„Mir kam es so vor, als ob die Sanduhr meines Lebens durch die Risse im Glas unkontrollierbar Körner verlor. Mein Leben verging wie im Zeitraffer, Klamotten von Designern, deren Namen ich nicht aussprechen konnte, Freundlichkeiten von Menschen, die mich verachteten, die Sättigung meiner Gelüste, alles lief perfekt, bis der Traum platzte. Als die Tür aufknallte und die engen Handschellen sich schmerzhaft in mein Fleisch bohrten, überrumpelte mich ein Gefühl der Reue, ein Drang, die Welt anzuzünden und mit ihr zu verbrennen.
Die restliche Zeit meiner Existenz soll ich hier verbringen? An einem Ort, an dem keine Blumen aufblühen, die Vögel nicht zwitschern, die Sterne nicht leuchten und die Tage nicht vergehen. Ist es leicht, immer die gleiche Wand zu sehen und mit Kreide jeden Tag zu zählen? Der kalte Luftzug, der unter der Stahltür durchzieht, die verrosteten Gitter oder das steinharte Bett, alles ist hier verflucht, oder bin ich derjenige, der seine Umgebung mit einem Fluch belegt?
Der Tag, an dem ich einen Fuß auf diesen kalten Beton setzte, änderte alles. Die Zeit verlangsamte sich und die Sühne meiner Sünden fing an…“
Er schreibe eigentlich erst seit rund 1½ Jahren, vertraut der Autor des Textes „Gefallene Sterne“, aus dem die vorigen Absätze zitiert sind, dem Reporter an, sei ein Fan von Romanen russischer Dichter wie Dostojewski, lese aber auch auf Türkisch und Deutsch. „Ich sammle im Alltag Ideen, verknüpfe sie dann wie bei diesem Text viel mit Szenen aus Filmen, die mich inspirieren. Zu „Tempo“ wollte ich den krassen Wechsel von der Hektik zum Stillstand, wie ich ihn mir in einem Gefängnis vorstelle, zumindest von dem, was ich in Filmen gesehen habe.“
So wie Jury-Entscheidungen durchaus subjektiv sein können, so ist es auch die Auswahl an Zitaten hier in diesem Beitrag, der eben nicht nur die Top3-präsentieren will. Alle 23 jungen Autor:innen, die es mit ihren Texten ins Finale geschafft haben, sind schon Sieger:innen. Dieser Beitrag und die vielen Zitate aus Texten wollen Lust darauf machen, selber in den einen oder anderen, vielleicht auch mehrere der eingereichten Texte reinzulesen.
„Der Bühnenraum eines Theaters war schon immer ein Zufluchtsort der Randständigen, dort galten die gesellschaftlichen Regeln weniger streng“, schreibt Yuliia Obukhivska von der Grazer HTBLVA (Höhere Technische Bundeslehr und Versuchsanstalt) Ortweinschule mit einem künstlerischen Zweig in „Niko, oder Vom Kolonialismus erzählt“. In einem Beitrag, der nur unwesentlich kürzer ist als alle anderen 22 zusammen, baut sie eine Jahrhunderte umfassende Geschichte der Ukraine ebenso ein wie Vampirismus, Neu-ankommen in einer Schulklasse und eben Außenseitertum sowie intensive Gefühle.
„… jede Sekunde Stillstand hinterlässt eine Verbrennung, und er wird bewundert, ja man bewundert ihn hinter vorgehaltener Hand, denn Bewunderung ist nur eine höfliche Reform des Ekels… weil Zersetzung Bewegung ist, ein Prozess. Kein Stillstand…“
„Ich werde mich nicht mehr biegen und nicht mehr versuchen, mich in mich selbst zu verleben, stattdessen über meine einsamen Dämonen siegen und, Freiheit. Ich atme Sie ein und nie wieder aus, halte sie fest, wie ein Kind seinen Traum.“
„Mein Schleichen wird zu einem sicheren Gang, mein Gehen zu einem gehetzten Lauf – ich laufe nach vorne, in die unendliche Weite, ohne Ziel, ohne Richtung, ohne klar ersichtbaren Sinn. Nach einiger Zeit komme ich erschöpft zum Stehen. Ich keuche atemlos vor mich hin und setze mich langsam auf den Boden. Wie anstrengend es doch ist, so lange zu laufen, ohne dabei vorwärtszukommen.“
„Ich habe doch alles, was das Herz begehrt. Mir kann es nicht schlecht gehen. Trotzdem ertrinke ich nun neben all diesen Dingen. Sie könnten mein Anker sein, mein Fels in der Brandung. Doch ein Fels sinkt schneller als ein menschlicher Körper. Drückt nach unten… Es ist viel einfacher, dem Sog zu folgen, als gegen ihn anzukämpfen…“
„Ich wünschte, ich wäre ein Schwamm. Ich wünschte, ich könnte jeden Moment wie ein Schwamm aufsaugen. Ich versuche krampfhaft, alles festzuhalten. Alle Erinnerungen so lebhaft zu behalten, als wären sie nie zu Ende gegangen. Ich trauere Momenten nach noch während sie passieren…“
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