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Emilia Masek im Wiener innenstäditschen Antiquariat, das sie zu ihrem Text animierte

Platz 1 bei texte.wien 2024: Vellichor

Ein leises Klingeln erfüllt die Luft, eine Tür fällt geräuschlos ins Schloss. Willkommen, sagt das Eingangsschild, und du willst nie wieder gehen. Im Antiquariat drücken sich die Regale an die Wände, schmiegen sich aneinander und kauern zusammen unter der Decke. Biegen sich fast unter ihrer Bücherlast, fast verblasste Worte, an denen die Geschichte von Jahrtausenden klebt. Die Schritte werden fast unmerklich gedämpft, nicht durch einen Teppich, der Raum selbst bittet um Schweigen.
Zwei Schritte mehr und da erstreckt sich die schriftgebundene Sagenwelt. Herakles kippt fast von dem Brett, unter ihm die falsch eingeordneten Brüder Grimm. Troja liegt in der Ecke, Odysseus taucht ins Tintenmeer.

Vergilbte Seiten, altersgebeugte Bretter, unlesbare Buchrücken.
Was wäre die Welt ohne Erinnerung?

Es heißt, in jeder Geschichte steckt ein wahrer Kern. Wenn du genau hinhörst, kannst du Iphigenie auf Tauris singen hören. An Aulis willst du dich nicht erinnern.

Die Geschichte der Welt wird mit Tinte erzählt. Manchmal auch mit Kinderhänden, die vor Tausenden von Jahren ihre Finger in Farbe tauchten und sie vorsichtig gegen einen Felsen pressten, als wollten sie sagen: Ich war hier. Ich habe geliebt, gelebt. Erinnert euch.

Manche Augenblicke bleiben für immer, weil wir sie nicht loslassen wollen. Wir schreiben sie ab, drucken sie neu, binden sie ein und sortieren sie neben ihre Vorgänger.

Um dich herum ist glasklare Stille.
Der Regen trommelt wütend gegen die Scheiben, aber du hörst ihn nicht, lässt ihn nicht ein. Heute ertrinkst du in Tinte.

Du läufst weiter, tiefer in das Labyrinth aus Worten, atmest die Jahrhunderte ein.
Links von dir lauert MacBeth, daneben kauert Hamlet. Worte, Worte, Worte. Wenn Liebe dich krönen könnte, wärst du längst König.
Nächstes Regal, knarrendes Eichenholz. „Neuerscheinungen“, verkündet ein Schild, und der jüngste Band ist älter als du. Du schweifst an ihm vorbei, bis an die hinterste Wand. Dorthin zieht es dich, wie lautloser Sirenengesang, ein Zupfen an deiner Seele, ein gehauchtes Versprechen.

Raues Leder unter deinen Fingern, Seiten so zerbrechlich wie erzwungener Frieden. Worte fliegen an dir vorbei und fallen mit leisem Rascheln an neue Orte.

Vellichor, sagt das Wörterbuch, sei die Wehmut inmitten von altem Papier. In der Zeit verloren zu sein, während sie sich unbarmherzig durch die Seiten frisst. Jede Geschichte endet irgendwann, wenn man keine zweite Auflage findet.

Vellichor, bedeutet zu wissen, dass man ein Sandkorn ist inmitten der Unendlichkeit, eine Aneinanderreihung von Buchstaben angesichts der Geschichte.

Vellichor, das bedeutet in der Ewigkeit zu stehen und selbst zu ihr zu werden, für einen Augenblick. Das Universum blinzelt und das Antiquariat bleibt bestehen. In hundert Jahren gibt es diesen Ort vielleicht noch, dich nicht mehr.

Lass etwas zurück, ein Flüstern zwischen den Buchseiten, bleistiftgebundene Gedanken. Der Klang deines Namens wird verhallen, bis kein Echo ihn mehr einfangen kann. Wehmut flutet dein Herz.

Lass etwas zurück. Einen Händeabdruck, in deiner Lieblingsfarbe. Finger gepresst an etwas, das nicht so vergänglich ist wie Papier. Einen Augenblick, den du mit bloßen Händen zu Ewigkeit formst.

Erinnert euch.
Ich habe geliebt, gelebt.
Ich war hier.

Emilia Masek

Emilia Masek bei der Preisverleihung, im Hintergrund Theresa Schmerold, die Zweitplatzierte des Bewerbs

Sollte ein Text rund um ein ungewöhnliches Wort sein

KiJuKU: Seit wann schreiben Sie, wie sind Sie dazu gekommen?
Emilia Masek: Schon seit ich klein bin schreib ich, früher war das aber richtig, richtig selten. Ich les‘ halt wirklich sehr, sehr gerne.

KiJuKU: Wann haben Sie dann mehr als selten zu schreiben begonnen?
Emilia Masek: In den Lockdowns, als wir alle zu Hause waren, da hab ich halt so eine Art Fan-Fiction-Community gegründet. Da haben wir uns eben ausgetauscht und das hat mich motiviert, mehr zu schreiben. Danach hab ich weniger und für den Wettbewerb wieder mehr geschrieben.

KiJuKU: Für Ihren siegreichen Text haben Sie auf der Bühne bei der Preisverleihung gesagt, der Besuch in diesem Antiquariat war der Auslöser. Wie war das: Sie waren drinnen, sind rausgegangen und haben gewusst: Da schreib ich jetzt einen Text darüber?
Emilia Masek: Nein, ich hab diesen Text erst zwei Tage vor Abgabe-Schluss geschrieben. Ich hatte mir mehrere Themen überlegt. Und es waren alles Wörter, die man weniger kennt. Am Anfang wollte ich über Petrichor schreiben, das bezeichnet den Geruch von Regen. Ich habe mich dann aber für diesen Text entschieden, weil ich in dem „Antiquariat Schaden“ in der Sonnenfelsgasse 4 (Wien-Innere Stadt; 1. Bezirk) ja drinnen war.

KiJuKU: Aber wenn ich das richtig verstehe, war ein Ansatz: Ich nehme ein Wort her, das wenige Leute kennen und darum herum bau ich eine Geschichte?
Emilia Masek: Ja, aber das hatte ich zum ersten Mal gemacht.

Bei der Lesung der Texte wurden immer Fotos der jewiligen Jugendlichen projiziert
Bei der Lesung der Texte wurden immer Fotos der jewiligen Jugendlichen projiziert

KiJuKU: Und dieses Wort ist Ihnen zugeflogen oder haben Sie es bewusst gesucht, speziell im Zusammenhang mit dem Antiquariat?
Emilia Masek: Ich hab’s auf Pinterest (ein Social Media Netzwerk) aufgeschnappt, dann hab ich erst einmal die Bedeutung im Internet gesucht. Ich hab dann begonnen, ungewöhnliche Wörter zu sammeln, hatte so eine kleine Liste mit denen. Dann nach dem Besuch im Antiquariat ist es mir wieder eingefallen und ich hab gedacht: Ach, das passt gut dazu und so hab ich mir das rausgepickt.

KiJuKU: Sind diese Beschreibungen des Antiquariats aus der genauen Beobachtung vor Ort oder war es „nur“ die Animation für diesen Text und Sie haben vieles erfunden?
Emilia Masek: Ich hab das meiste erfunden. Ich war nur zwei Mal dort. So genau hab ich mir das nicht angeschaut, weil ich eben mit einigen Büchern dort beschäftigt war. Ich fand einfach die Atmosphäre richtig cool. Und wusste schon nach dem ersten Mal: Da komm ich auf jeden Fall wieder. KiJuKU: Abschließend die gleich Frage wie an Ihre Kolleg:innen: Ist Schreiben so etwas wie eine Berufsperspektive für Sie?
Emilia Masek: Ich würde schon gerne Autorin werden. Früher wollte ich das hauptberuflich machen, aber jedenfalls würd ich’s gerne nebenberuflich machen und wenn sich’s dann einmal ausgeht zum Hauptberuf.

kijuku_heinz

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