Gedicht Ilse Aichingers in Metall-Buchstaben auf der Schwedenbrücke erinnert an den Mord-Transport ihrer Verwandten und Tausender anderer in der Nazi-Zeit.
Auf der Wiener Schwedenbrücke von der Leopoldstadt (2. Bezirk) in die Innere Stadt (1. Bezirk) kann – in dieser Richtung auf der linken Seite – gehend ein Gedicht gelesen werden. „Winterantwort“ von Ilse Aichinger. In den wenigen Worten, die ausdrucksstarke Bilder vor den geistigen Augen hervorrufen, drückt sich nicht zuletzt ihre Kritik an der ersten vermeintlichen, oberflächlichen Wahrnehmung aus. Und die Erinnerung an ihre Großmutter.
Am 6. Mai 1942 hat die damals 21-jährige Ilse Aichinger diese sowie ihre Tante und ihren Onkel zum letzten Mal gesehen – auf einem offenen LKW wurden die drei Verwandten zusammen mit anderen Jüd:innen aus einem Sammellager im 2. Bezirk zum Aspangbahnhof gebracht, von wo aus sie ins Vernichtungslager der Nazis in Maly Trostenez (bei Minsk) verfrachtet und dort ermordet wurden.
Der Roman der Schriftstellerin „Die größere Hoffnung“ wird derzeit – zu selten – in einer äußerst sehens- und erlebenswerten Dramatisierung in St. Pölten im NÖ Landestheater gespielt – Link zur Stückbesprechung am Ende dieses Beitrages. Die in Metall geschnittenen Buchstaben (Installation: Elisabeth Eich, Schwiegertochter Aichingers) wurden fünf Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin anlässlich der 100. Wiederkehr ihres Geburtstages (1. November 2021) angebracht.
Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga konnte übrigens dem Nazi-Regime im Rahmen eines der Kindertransporte knapp vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs nach England entkommen – für Ilse selbst gab es keinen Platz. Sie konnte mit viel Glück in Wien überleben.
„Winterantwort: Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt: Keine Auge mehr, um die weißen Wiesen zu sehen, keine Ohren, um im Geäst das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin, um die Gräser zu schmecken, und wer riecht uns den Himmel zu Ende, wessen Wangen reiben sich heute noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald, in den wir gerieten?
Nein, Großmutter, er ist nicht finster, ich weiß es, ich wohnte lang bei den Kindern am Rande, und es ist auch kein Wald.“
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