„Störfall Kassandra“ nach Christa Wolf im Spielort „Dunkelkammer“ im Wiener Volkstheater.
Die Dunkelkammer des Volkstheaters ist vielleicht sogar der ideale Ort für die monologische Performance „Störfall Kassandra“. Nach den beiden gleichnamigen Bücher der widerständigen DDR-Schriftstellerin Christa Wolf hat Gitte Reppin den rund einstündigen Text des Abends kombiniert und verdichtet. Und sie rezitiert und spielt ihn auch. An manchen Stellen gespenstisch, beängstigend leider fast zeitlos.
Obwohl sich die Textstellen aus „Störfall“ historisch den katastrophalen Unfall im AKW Tschernobyl (26. April 1986, Ukraine, damals Teil der Sowjetunion) abarbeiten, lassen sie sich auch generelle Kritik daran lesen, dass Warnungen vor Gefahren für Menschen, jedwedes Leben und die Natur oftmals in den Wind geschlagen werden.
Und von „Winden“ und dem Transport radioaktiver Wolken durch diese schlägt der kombinierte Text die Brücke zu den Winden für die Segelschiffe der Griechen, die gegen Troja zogen. Und damit zu Kassandra, der blinden Frau mit der Gabe – durch Analyse der Gegenwart künftige Gefahren zu sehen. Der aber niemand glaubt.
„Kassandra, das ist kein Name, das ist eine Kampfansage, entschlossen, die Gemütlichkeit zu stören. Kassandra – das ist mein Kampfname, meinen anderen habe ich vergessen. Ich schrumpfe dahinter zusammen. Kassandra ist kein Mensch, Kassandra ist ein Programm. Kassandra zerstört auch mich. Mit jeder Prophezeiung zerstört sie mich.“
Im Zentrum eines Halbkreises aus vielen kleinen weißen Steinen – an den Seiten eng belegt, immer spärlicher werdend und schließlich nur mehr mit gedachter Schließung des Bogens (Raum: Jane Zandonai) – lässt die Schauspielerin (Regiemitarbeit: Barbara Seidl, Dramaturgie: Ulf Frötzschner) die Texte lebendig werden. Wenige, spärliche, dezent gesetzte Bewegungen, eingeblendete atmosphärische Bilder und Video-Sequenzen (Ulrike Schild) und eine „Verwandlung“ mit Umkleidung in einen goldglänzenden Overall sowie ebensolcher Schminke von Gesicht, Händen, Füßen und Haaren (Kostüm: Tina Prichenfried) unterstreichen lediglich das Gesagte, den dichten Text, der in diesem Fall eingebettet ist in einen fiktiven Dialog mit dem sterbenden Zwillingsbruder.
Mit-geteilt?!
Vielleicht eine – für viele – überraschende textliche, aber vor allem gedankliche Erkenntnis: Sowohl Atom als auch Individuum, ersteres aus dem Griechischen, das andere Wort lateinischen Ursprungs, bedeuten auf Deutsch unteil- oder wie es im Stücktext heißt „unspaltbar. Die diese Wörter erfanden, haben weder die Kernspaltung noch die Schizophrenie gekannt…“
Und nicht im Text, aber weitergesponnen: Was passiert eben, wenn Erkenntnisse nicht weiter (mit-)geteilt werden?!
Mahnung, Erkenntnisse von „Seher:innen“ und deren Warnungen vor fast schon mit Händen greifbaren auf die Menschheit und den Planeten zukommende Gefahren, eben nicht zu ignorieren. „Aus irgendwelchen Gründen steht der Glaube, dass es für alles und jedes eine technische Lösung gibt, immer wieder auf.“ Kommt das vielleicht bekannt vor?
Und der Text ist von globaler Betrachtung gekennzeichnet, so heißt es u.a.: „Das ist doch alles krank. Oder was muss noch passieren, als dass die Milch weggekippt wird, tausendliterweis, und man sich fürchten muss, mit den besonders gesunden Nahrungsmitteln die Kinder besonders schnell zu vergiften. Und auf der anderen Seite des Erdballs gehen die Kinder zugrunde, weil ihnen genau diese Nahrungsmittel fehlen.“
Und darum passt vielleicht auch die Dunkelkammer so gut: Erst mit der richtigen, wohldosierten Belichtung werden die – noch analog – fotografierten Bilder sichtbar.
nach Christa Wolf
von und mit Gitte Reppin
Regiemitarbeit: Barbara Seidl
Raum: Jane Zandonai
Kostüm: Tina Prichenfried
Video Art: Ulrike Schild
Sounddesign: Giorgio Mazzi
Dramaturgie: Ulf Frötzschner
Bis 23. März 2023
Dunkelkammer im Volkstheater: 1070 Arthur-Schnitzler-Platz1/Eingang Neustiftgasse
Telefon: 01 52 111-400
volkstheater -> stoerfall-kassandra