Zum 27. Mal wurden die Exil-Literaturpreise – „Schreiben zwischen den Kulturen“ – in Wien vergeben. Teil 2
Eine dreisprachige Familie steht im Zentrum des Textes der Siegerin, in anderen Texten kommen mehrere Sprachen vor, die Jugendlichen des prämierten Schulprojektes versetzten sich in Altersgenoss:innen in verschiedensten Teilen der Welt… Über die Texte der Schülerinnen samt kurzen Interviews mit jenen sechs der sieben die zur Preisverleihung gekommen waren, gibt es einen eigenen Beitrag, der schon früher erschienen ist – Link dazu am Ende dieses Beitrages: „Wenn ich bei der Geburtslotterie nicht gewonnen hätte…“
„Schreiben zwischen den Kulturen“ ist das Motto der heuer (2023) zum 27. Mal vergebenen Exil-Literaturpreise. Nach vielen Jahren auf der Buch Wien – wo der zeitliche Rahmen immer sehr begrenzt war – fand die Preisverleihung nun auch schon zum wiederholten Mal im Literaturhaus Wien statt. Heuer mit leider nur recht kurzen Auszügen aus den ausgezeichneten Texten.
Der Bewerb, die Preise und vor allem die Edition Exil, bei der nicht nur die gesammelten vollständigen Preistexte erscheinen – siehe Info-Box -, sondern immer wieder auch Einzelbände vormaliger Preisträger:innen, wirkt damit seit mehr als einem ¼-Jahrhundert befruchtend für die österreichische Literatur. „Heute so bekannte Autor*innen wie Julya Rabinowich und Thomas Perle, Susanne Gregor und Didi Drobna, Marko Dinić, Ljuba Arnautović, Dimitré Dinev und Samuel Mago und viele andere wurden durch die Exil-Literaturpreise entdeckt und zu Beginn ihrer Karrieren im Autor*innen-Coaching im Rahmen der Exil-Autor*innenwerkstatt und meist auch mit Erstpublikationen in der edition exil entscheidend gefördert“, schreibt und sagt Christa Stippinger, Herz, Seele und Motor des Bewerbs und der Edition.
„Ich weiß, dass in jeder Sprache ein anderer Mensch steckt. Mein Vater ist sanft, wenn er Ukrainisch spricht“, heißt es an einer Stelle von „Platz für Enge“, dem Text, mit dem Anastasiya Savran den Exil-Literaturpreis 2023 – von 1999 Einreichungen) gewonnen hat. „Mutter hingegen ist geradlinig, gerecht und streng. Ihre russische Sprache und den Tonfall nehme ich an, wenn ich überzeugen will. Wenn wir diskutieren und jeder den eigenen Standpunkt durchzusetzen versucht.
Und Deutsch? Das ist die Sprache, die ich verwende, um zu erklären. Es ist die Sprache, um sich Neuem anzunähern. Wir reden deutsch, wenn etwas noch fremd für uns ist.
Ich weiß auch, dass alle drei Sprachen in meinen Eltern wohnen. Aber seit einem Jahr hat sich etwas verändert…“
Die Autorin ist als sehr junges Kind (eineinhalb Jahre) nach Österreich gekommen. „Als meine Familiensprache bezeichne ich Ukrainisch, weil es für mich eine starke Bedeutung hat, in Bezug auf Emotionen und den Wortschatz. … Mit meinen Brüdern oder Schwestern rede ich Deutsch, und obwohl wir die Sprache beherrschen, ist es anders, als wenn wir Ukrainisch sprechen“, wird sie im Preistexte-Band zitiert. „Für mich persönlich ist Heimat kein Ort, den man mit einer Pin-Nadel auf einer Karte festlegt, sondern ein Wert, und der kann in zwei, drei oder vier Ländern liegen.“
Savran, die am Gymnasium im Wiener Theresianum naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete, ist nunmehr Lehrende und Forscherin an der Pädagogischen Hochschule Wien 10 – Schwerpunkt Naturwissenschaften, IT in Verbindung mit Kunst (STEAM – Science, Technology, Engineering, Arts, Mathematics) – womit sie noch ganz andere Sprachen in ihr Leben integriert – und obendrein vermittelt;)
„In meiner Sprache kann ich nicht schlafen, dormire, il sonno heißt aber der Schlaf. Insonne werde ich, als er mir ausweicht. Sogar manche Pflanzen nehmen nachts eine Schlafposition ein, lese ich, die Blätter nach unten. Blüten schließen sich meistens. Ob sie auch wirklich schlafen, weiß ich nicht“, schreibt Wania Laila Castronovo in „Insonne. Berichte aus einer anderen Landschaft“. Damit gewann sie den zweiten Preis. Immer wieder switcht sie zwischen Deutsch und Italienisch (manches Mal in Fußnoten im Buch übersetzt) und bringt das in zwei kurzen Sätzen auf den Punkt: „Am liebsten die Sprache vermischt. Am genauesten spreche ich gemischt.“
„Das Ungleichgewicht der Grenzen“ betitelte Sára Köhnlein ihren Text, mit dem sie auf Platz drei des aktuellen Bewerbs kam. Und in dem sie unter anderem die „herrschende“ Hierarchie von Sprachen thematisiert. Aus dieser Passage sei hier zitiert:
„Doch es ist mehr als der Inhalt, es ist die Sprache selbst. Er ist der, der alle Sprachen sprechen darf; wenn er Deutsch redet, antworten die Menschen auf Deutsch, um die Sprache zu üben. Wenn er Tschechisch spricht, wird er für seine Kenntnisse gelobt. Wenn er Englisch spricht, sagt man, er beherrsche so viele Sprachen.
Auch in der Familie bemerkt Ludvika das subtile Ungleichgewicht, das in allen Aspekten des Lebens vorhanden ist. Wenn sie in Deutschland sind und Mutter auf Deutsch spricht, wird sie korrigiert, während Vater in Tschechien viel häufiger gelobt wird. … eine Sprache ist immer mächtiger als die andere, eine Sprache hat mehr Geld als die andere, … In Ludvika wohnen beide Sprachen und in ihrem Haus wohnen beide Elternteile.“
Auch in der Familie bemerkt Ludvika das subtile Ungleichgewicht, das in allen Aspekten des Lebens vorhanden ist. Wenn sie in Deutschland sind und Mutter auf Deutsch spricht, wird sie korrigiert, während Vater in Tschechien viel häufiger gelobt wird. … eine Sprache ist immer mächtiger als die andere, eine Sprache hat mehr Geld als die andere, … In Ludvika wohnen beide Sprachen und in ihrem Haus wohnen beide Elternteile.“
In diesem Jahr wurde auch ein Lyrikpreis vergeben. Dieser ging an Lorena Pircher für ihren gedichteten Text „Neujahr“ über zerrissene Gefühle einer Familie im Exil. Daraus sei der Abschnitt V (von sechs -in römischen Ziffern) zitiert: (alles in Kleinschreibung im Original) „geruch von schafwolle und essig duft der geborgenheit heu orecchiette geschälte tomaten wir inhalieren einen schluck wein und / die scalda ’nduja zischt leise das fleisch köchelt / spalmare ein wort das meinen gaumen füllt meine augen folgen der hand meiner schwester / sie liest matilde serao nach dem essen obwohl die worte ihr wie geröll im mund lasten einzeln gegen die zähne schlagen fremdkörper in ihr / wir kinder sprechen die madrelingua nur mehr selten rauchschwalben pendelnd zwischen dem was wir nicht loslassen wollen und dem was wir noch nicht erfassen können / niemals vergessen wollen was wir erinnern können niemals vergessen woher wir kommen.“
Seit vielen Jahren vergeben die Exil-Literaturpreise auch einen für Autor:inen mit Deutsch als Erstsprache. Dieser ging 2023 an Lisa-Viktoria Niederberger für „Gittka“. Ihre Protagonistin lebt im Altersheim – und die Autorin verwebt ihr dortiges Dasein mit Erinnerungen an deren eigene Geschichte. Darin heißt es unter anderem:
„Gittka und ihre Eltern.. gehören zur Gruppe der Vertriebenen, sind Displaced Persons. Ein Drittel der Menschen in Linz nach dem Krieg waren KZ-Überlebende, Flüchtlinge, Vertriebene. Ich habe in der Schule nicht viel über diese Stadt in jener Zeit gelernt. Auch die Volksdeutschen, die Karpatendeutschen, waren lange Zeit nur eine Fußnote in meinem Wissen über Zeitgeschichte. Irgendwann ändert sich das, will ich diese Lücken füllen, mit Büchern, Dissertationen, Besuchen in Archiven. Meine Primärquellen sind tot.“
„Vom Vergessen. Vom Kritzeln.“ Nannte Estera Calin ihren poetisch, phasenweise fast mystischen-Mythischen Text. Mit dem gewann sie die Jugendkategorie bei den Exil-Literaturpreisen 2023. In diesem Jahr hatte sie in Linz maturiert, wohin sie erst wenige Jahre zuvor aus Chișinău (Hauptstadt der Republik Moldau) mit ihrer Familie gekommen war. Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte sie in Gagausien, einem autonomen Gebiet in diesem kleinen Land.
Zitat aus dem ausgezeichneten Text: „Vielleicht waren ihre Worte im Innersten faul, bereits verrottet.
Vielleicht hatte sie nicht die richtige Sprache gesprochen.
Vielleicht war sie einfach nur wahnsinnig verliebt in Worte, die niemand verstand.
Folclor. Бабушкин суп. Criză economică. Клянусь, я пришла сюда не для того, чтобы есть ваши деньги. Ihre Worte, ihre Kinder. Ihre unschuldigen, süßen Kinder. Die sie sprechen würde. Die sie singen würde. Die sie fürchtete, durch den bloßen Akt des Vergessens getötet zu haben.
Die sie jetzt so verzweifelt wiederbeleben wollte, aber sie wollten nicht kommen.
Vielleicht haben sie sie vergessen.“
„Nur eine Literatur, die Mehrsprachigkeit nicht nur zum Thema macht, sondern aus der Mehrsprachigkeit kommt und sie in vieler, oftmals erstaunlicher Weise selbst praktiziert, kann uns Leser*innen all das zeigen. Und darum, so denke ich, sollten vielleicht gerade Autor*innen, die mit großer Souveränität ihre einzige eigene Sprache handhaben, sich diesen mehrsprachigen Texten aussetzen…“, schreibt Jessica Beer, Mitglied der Jury und Moderatorin der Preisverleihung im Vorwort zum aktuellen „preistexte“-Band.
Preistexte 23
Mit den Texten aller Preisträgerinnen (dieses Mal – nicht bewusst – ausschließlich weiblich)
Sowie Interviews und Auszügen aus den Jurybegründungen
Herausgeberin und Lektorat: Christa Stippinger
ca. 140 Seiten
edition Exil
15 €
Nach der Preisverleihung ist immer vor dem nächsten Bewerb. Und so werden für die Exil-Literaturpreise 2024 neue Texte gesucht, natürlich auch wieder von (einzelnen) Jugendlichen sowie von Schul- oder Klassenprojekten.
Link zur Ausschreibung hier