„Gute Kinder“ – poetisch-sprachverspielter Roman über eine dement werdende ältere Person – oder eine, die sich von der Welt zurückzieht?
Wie ein Eintauchen in fremde Welten – mit doch immer wieder vertrauten Elementen und Gedanken – so lesen sich die nicht ganz 200 Seiten des Romans „Gute Kinder“ von Andrea Heinisch. Vordergründig ist Inge Heiligstetter (vielleicht?) dement. Möglicherweise aber ist sie „nur“ dabei sich aus der vordergründig sie umgebenden Welt schritt- und schubweise zurückzuziehen, sich von dieser abzugrenzen, in ihr Innerstes, ihre Gedanken zu verkriechen – um (endlich?) sie selbst sein zu dürfen? Jedenfalls in eine eigentlich praktisch unzugängliche (Gedanken-)Welt, könnte eine demente Person sie wohl so gar nicht äußern.
Wie auch immer, zunächst kurz die äußeren Eckpunkte: Die ältere Frau zündet ihre eigene Wohnung an, wird in einem Pflegeheim untergebracht. Regelmäßig besucht ihre Tochter Helene sie mit deren beiden Kindern Alexander und Sophie. Die Mutter wirft der Tochter – in Gedanken – immer wieder Unehrlichkeit vor – und outet spät eine große Lüge in der sie selbst Helene aufwachsen hat lassen. Einzig wirklich vertraute Person ist der Pfleger Manfred, genannt Manni. Den Zivildiener, den sie manchmal neckisch-provokant als „Wehrdienstverweigerer“ bezeichnet, verknüpft sie nicht selten mit Erinnerungen an ihren Ehemann Herbert.
Diese äußeren Koordinaten sind aber weitgehend nur Ankerpunkte, der Autorin gelingt etwas fast Unglaubliches: Sich – und damit ihre Leser:innen – in die von außen kaum vorstellbare, unzugängliche (Gedanken-)Welt dieser Inge zu versetzen. Selbst wenn sie vordergründig wirklich dement sein sollte, heißt das ja nicht, dass solche Menschen blöd sind. Was geht in ihrem Kopf vor, was bewegt sie, wie sieht (eine wie) sie die Welt rund um sich; bzw. wie und was könnte sich in Inges – und vergleichbarer Personen – Hirn und Herz abspielen?
Ein spannendes Gedankenexperiment der Autorin – noch dazu in immer wieder beeindruckenden poetischen Formulierungen und verspielten Wortbildern wie zum Beispiel folgende Zitate:
„Lieber verrückt als alt werden. Nur mit Lügen geht das, sage ich. Den Worten einfach fremde Kinder unterschieben, Kuckuckskinder. Der Freiheit die Fesseln, den Fesseln die Freiheit. Der Liebe die Gemeinheit, der Gemeinheit die Liebe. Der Lüge die Wahrheit, der Wahrheit die Lüge. Das geht im Handumdrehen.“ (S. 72)
„Zufallen meine ich, wie die Erinnerungen ja auch nur zugefallene Türen sind, dahinter das blühende Leben, sagt man.“ (S. 142)
„Herbert, sage ich, du fehlst mir jeden Tag aufs Neue. Ich weiß, sagt er und hat so tiefe Augen, dass meine Traurigkeit hineinpasst wie in einen Brunnenschacht. Oder ist es seine Traurigkeit, die ich da sehe? Ich weiß es nicht, ich habe es vergessen.“ (S. 163)
„Was ist, wenn die Zeit kommt, in der ich nichts mehr weiß, nicht dich und nicht mich. Wenn es keine Fenster mehr gibt und die Türen verschwunden sind, sogar die zum Balkon. Alles ganz offen oder ganz zu, das kommt aufs selbe raus.“ (S. 169)
„Das, sagt sie und zeigt irgendwohin, könnte ein Spiegel sein oder das Waschbecken. Was ist schon ein Spiegel, was ist schon ein Waschbecken, was sind schon Worte, wenn sie die Zeitlöcher nicht einmal mehr notdürftig überdecken können.“ (S. 172)
Und nicht zuletzt lässt die Autorin ihre Protagonistin immer wieder tiefschürfend und allumfassend philosophieren: „Wer werde ich sein, wenn ich längst zu Ende bin.“ (S. 36)
Sie selbst habe bei dement werdenden / gewordenen Personen in ihrem Umfeld genau hingeschaut und hingehört und viel darüber gelesen und recherchiert, meinte die Autorin am Rande der Uraufführung einer dramatisierten eigenständigen Version ihres Romans im Theater Arche zu Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… – dazu gibt’s hier demnächst einen eigenen Beitrag.
Text: Andrea Heinisch
Gute Kinder
184 Seiten
Picus Verlag
22 €
eBook: 17,99 €