Vor 75 Jahren ist George Orwells „1984“ erstmals erschienen, das Theater Spielraum (Wien-Neubau) konzentriert sich auf „Neusprech“, sprich Fake News.
Auch wenn viele den Roman mit seinen (je nach Verlag) rund 300 Seiten gar nicht kennen, so ist sowohl der Titel mit der Jahreszahl „1984“ als auch die andauernde, allgegenwärtige Überwachung, die im Spruch „Big Brother is watching you“ zum geflügelten Wort für genau diese Tatsache geworden.
Der aus dem bewussten Zahlendreher 1948 von George Orwell fertiggestellte (ein jahr später erschienene) dystopische Roman nimmt aber nicht nur die vollkommene Überwachung aufs Korn. Innere und äußere Partei samt ihrer Gedankenpolizei bürsten alles auf Gleichklang. Und dafür müssen Tausende Mitarbeiter:innen frühere Meldungen in allen verfügbaren Medien umschreiben. Begriffe werden in ihr Gegenteil verkehrt: Krieg = Frieden, Freiheit = Sklaverei… Solche Parolen flimmern als Einblendungen über die Rückwand des Theaters Spielraum in der Wiener Kaiserstraße (Video: Robert G. Neumayr).
Dieses kleine, feine, engagierte Theater – Motto: „Wir nehmen Texte beim Wort“ – spielt derzeit eine kompakte, komprimierte 1½ -stündige Version (Regie & Stückfassung: Nicole Metzger, Co-Leiterin des Theaters im ehemaligen Erika-Kino). Viele Nebenstränge aus dem Roman, ja sogar der so wie der „Große Bruder“ immer nur via virtueller Erscheinung auf Monitoren im Roman vorkommende Gegenspieler Emmanuel Goldstein, bleibt außen vor.
Das präzise, oft fast entpersönlichte Schauspiel des Ensembles als auf Konformität gestrickte Bürger:innen Ozeaniens in „1984“, lässt immer wieder auch kalte Schauer über den Rücken laufen. Am Krassesten vielleicht dort, wo Gewalt via „Fernwirkung“ gespielt wird. Winston Smith (Samuel Schwarzmann) und Julia (Julia Handle), die Gefühle füreinander entwickeln und beginnen kritische Gedanken gegenüber dem Big-Brother-Regime zu entwickeln, werden von O’Brien von der äußeren Partei (Peter Pausz) zuerst um den Finger gewickelt und dann als Feinde ge-outet und „entsprechend“ behandelt. Wenn Pausz an einem Ende der Bühne lautstark und gewaltig auf den Boden tritt und am anderen Ende der Bühne die Abtrünnigen zusammenzucken, dann reißt’s dich im Publikum vielleicht sogar noch stärker, als würde er direkt auf sie vermeintlich einprügeln.
Dana Proetsch switcht von der Rolle Parsons, der von seiner 7-jährigen Tochter verraten wird, weil er im Schlaf etwas gegen Big Brother von sich gegeben hat in die von Charrington, in dessen laden Winston ein Tagebuch kauft.
Gabriel N. Walther spielt Syme, der den Job am „Neusprech“ liebt. Zu dieser zählen nicht nur die oben schon erwähnten Umdeutungen. Die (neue) Sprache soll ständig weniger werden. Wozu brauche es „schlecht“ – „un-gut“ reiche. Synonyme werden ebenfalls aussortiert, sogar für mögliche Steigerungen reichten plus bzw. doppelplus vor dem jeweiligen Adjektiv.
Eine schmale, hohe Pyramide auf der Bühne bzw. entsprechende mit weißen Klebebändern auf dem schwarzen Boden markierte Drei-Ecke symbolisieren das Londoner Informations-Ministerium, dem die BBC unterstellt war und das George Orwell angeblich als Vorbild für sein Wahrheitsministerium vor Augen hatte (Bühne: Raoul Rettberg). Haus-Ausstatterin Anna Pollack hat sich für die fünf Schauspieler:innen T-Shirts mit einem riesigen Bar-Code – aber kleinen menschlichen Figuren statt der Zahlen unter den Strichen einfallen lassen – und ein Mittelding aus Rock und Hose für darunter.
Die Theater-Spielraum-Fassung konzentriert sich auf die auch heute nicht minder wichtige und wahrscheinlich noch viel präsentere Verdrehung von Wahrheit(en), aktuell „Fake News“ genannt – in beiden Bedeutungen: Als wirkliche Falsch-Nachrichten wie sie bei Orwell von den Mitarbeiter:innen des Ministeriums für Wahrheit produziert werden, aber auch als Schimpfwort. Zu Letzterem griff der damalige US-Präsident Donald Trump, der seinerseits viel mit Lügen arbeitet, immer wieder gegenüber seriösen Medien. Kaum begannen sie Fragen zu stellen, schleuderte er ihnen „Fake News“ entgegen.
Was Orwell als massive Kritik an Überwachung verstand – und die Leser:innen ebenso, hat sich längst weitgehend umgedreht. Seit einem ¼-Jahrhundert begeben sich Menschen freiwillig in Container, auf Inseln, in den Dschungel, in Häuser, um sich rund um die Uhr von TV-Kameras beobachten zu lassen. Die Fernseh-Show „Big Brother“ wurde 1999 erstmals in den Niederlanden ausgestrahlt.
Nicht nur das. Wir (fast) alle unterwerfen uns mit dem Rausrücken unserer Daten an die Großkonzerne, die sie als Gegengeschäft zu vermeintlichen gratis-Suchmaschinen und Social Media in Zahlung nehmen, praktisch der Rundum-Überwachung unserer Aktivitäten, Einkäufe…
Diese Überlegungen gehen den Zuschauer:innen beim und nach dem Besuch sicher ebenso durch den Kopf wie das Grübeln bei so manchen Nachrichten, ob die nun echt oder nicht, sozusagen Fakt oder Fake sind. Und „Neusprech“ ist so fern ja nicht, wenn Kündigungen „Freisetzungen“, Schrumpfen der Wirtschaft „Minuswachstum“, Deportationen „Außer-Landes-Bringung“ genannt werden…
Von George Orwell
1 ½ Stunden (keine Pause)
Bühnenfassung für das Theater Spielraum: Nicole Metzger
Es spielen
Winston: Samuel Schwarzmann
O’Brien: Peter Pausz
Julia: Julia Handle
Parsons / Charrington: Dana Proetsch
Syme: Gabriel N. Walther
Inzenierung: Nicole Metzger
Bühne: Raoul Rettberg
Kostüm: Anna Pollack
Video: Robert G. Neumayr
Licht: Tom Barcal
Die Inszenierung verwendet: George Orwell: A Life in Pictures Full Documentary (BBC Television 2003) mit Chris Langham
Bis 23. November 2024
Mittwoch bis Samstag; jeweils 19.30 Uhr
Theater Spielraum: 1070, Kaiserstraße 46
Telefon: 01 713 04 60
0 664 121 74 18
office@theaterspielraum.at
Unzählige Versionen
Das hier bei der Recherche – zum Nachlesen – verwendete
George Orwell
Übersetzung aus dem Englischen: David De Angelis
1984
Verlag: Stargatebook, August 2024
288 Seiten
eBook: 2,99 €
Zu einer Leseprobe (ca. 30 Seiten) geht es hier