Das klug gebaute, tiefsinnige, schaurig-arge Matrjoschka-artige Stück „Spiegel“ zwischen Wahrheit und Zwang zum Schönfärben als deutschsprachige Erstaufführung im Theater Spielraum in der Wiener Kaiserstraße.
Baldachin, Girlanden, Luftballons, einige davon in Herzform, ein Plakat, natürlich in Herzform – alles vorbereitet zur Hochzeit von „Leyla & Joel“ im Foyer des Theaters Spielraum in der Wiener Kaiserstraße.
Häääää? Sollte da nicht das Stück „Spiegel“ der jungen britischen Dramatikerin Sam Holcroft seine deutschsprachige Erstaufführung feiern?! Und das ist doch mit ganz anderen Sätzen angekündigt: „In einer Welt, in der alles unter Kontrolle steht, ist auch die Wahrheit eine Lüge. Und eine Lüge kann die Wahrheit sein…“
Gut gegen Ende des Textes steht schon etwas von „Und eine Hochzeit gefeiert. Oder nicht?“
An der Theaterkassa wird neben dem Ticket auch eine Einladung zu dieser Hochzeit ausgegeben, samt dringendem Hinweis, die sei sogar wichtiger als die Eintrittskarte. Echt jetzt?
Wer die Einladung umdreht, kann dann unter anderem lesen: „Hiermit erkläre ich unter Eid, dass ich die Gesetze meiner Nation unterstützen und gegen alle Feinde im In- und Ausland verteidigen werde; dass ich ihr wahren Glauben und Treue erweisen werde…“ bis hin zur Verpflichtung, nach entsprechender Aufforderung, Waffen zu tragen und sich aufzuopfern…“ Das wiederum hat schon mehr mit der Ankündigung des hochpolitischen Stückes zu tun.
Die Hochzeit ist, so viel darf schon verraten werden, Teil des Stückes und seiner Inszenierung. Dazu zählen auch die Kopien eines Bescheides, die an vielen Stellen an den Wänden hängen: Die Aufführung des angesetzten Theaterstückes wurde untersagt – vom „Amt für bürgerliche Ordnung“. Dieses ABO hätte „das Stück geprüft und eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und des sozialen Friedens festgestellt, die Grenzen der künstlerischen Freiheit würden überschritten“.
Jene, die die Rückseite der erwähnten Hochzeitseinladung sowie den genannten Bescheid gelesen haben sollten, nahmen an, das ist wohl Teil der Inszenierung. Die anderen offenbar auch. Das „Verbot“ und der patriotische Schwur stellen die direkte Verbindung zum Kern des Stückes her; die Hochzeit hat eine spezielle Funktion, aber die sei hier ebenso wenig gespoilert wie eine verblüffende Wende gegen Ende der knapp mehr als 2¼ kurzweiligen, bitterbösen und doch immer wieder auch humorvollen Stunden mit Gruselfaktor. Letzterer liegt vor allem an der Außenwelt, der Realität auf der echten Welt mit illiberalen Demokratien, sogenannten alternativen Fakten.
Was mit der Hochzeit von Leyla & Joel mit einem Standesbeamten startet, wechselt in die Achterbahnfahrt rund um den ersten Theatertext des jungen Adem Nariman (Paul Graf, der auch den Bräutigam spielt). Eigentlich ist er Automechaniker, aber ein ausgezeichneter, exakter Beobachter und Zuhörer. Aus allem, was er in seiner kleinen Wohnung mit extrem dünnen Wänden im 9. Stockwerk hört, verpackt er in diesen seinen ersten Stücktext. Und wie in diesem – nicht verorteten – Land erforderlich, reicht er es beim Kulturministerium ein.
Und hat Glück – oder auch nicht, wer weiß?!
Nicht irgendein Unterläufel, sondern der in der Hierarchie weit oben angesiedelte Ministeriumsdirektor Čelik, stets ohne Vornamen, kriegt es auf den Schreibtisch (Paul Wiborny, der auch in die Rolle des Standesbeamten schlüpft). Er lädt den Autor in sein Büro, um den Text zu besprechen.
Adem habe Talent, aber alles, was er da beschreibe, sei so negativ und voller Kraftausdrücke. Das Land brauche Positives, Aufbauendes.
Es sei doch einfach die Wahrheit und nichts anderes als diese, verteidigt der Verfasser seinen Text.
„Vielleicht. Aber du sprichst hier nur von einer oberflächlichen Wahrheit, reiner Realitätstreue… Kunst sagt einem nicht nur, was ist, sondern auch, was sein könnte. Und das ist, fürchte ich, das grundlegende Problem deines Stückes…“, so der Ober-Zensor.
Der Automechaniker hätte zwar das Werkzeug zum Schreiben, aber er müsste es halt richtig einsetzen. „Ein Spiegel ist kein Gemälde“, wird er später sagen. Aber er, der oberste Kulturbeamte, der immer wieder durchklingen lässt, eigentlich auch kompetenter zu sein als die Ministerin, sei ja ein Förderer junger, neuer Talente in allen Sparten der Kunst und Kultur und nicht so ein Abkanzler wie die unterrangigen Beamt:innen. Und so ermunterte Čelik seinen Gast, ein neues Stück zu schreiben – unter den von ihm genannten Eckpfeilern und ließ ihm von seiner neuen Mitarbeiterin Mei (Anna Zöch, auch als Braut im Einsatz) als Leitfaden eine Broschüre überreichen. Deutlich zu sehen deren Titel: 1984.
(Nicht nur) mit diesem Detail schlägt die Inszenierung von Co-Prinzipal des Theaters, Gerhard Werdeker, eine Brücke zur vorjährigen Aufführung des Dystopie-Klassikers von George Orwell (dabei führte Co-Direktorin Nicole Metzger Regie, die dieses Mal für die Dramaturgie verantwortlich zeichnet).
Doch was liefert Adem beim nächsten Mal? Ein wortgetreues Protokoll des ersten Treffens!
Habe er ihn etwa aufgenommen? Nein, er merke sich heben alles.
Aber was wolle er damit, gar den Ministeriumsdirektor auf die Schaufel nehmen?
Gerade diese Szene, aber auch das ganze Stück, so schreibt die Autorin Samantha Holcroft in einer Danksagung zu ihrem Stück, sei inspiriert vom Dramatiker und Filmemacher Lucien Bourjeily. Ihn sowie weitere libanesische und syrische Schriftsteller habe sie 2014 bei einem einwöchigen Schreibworkshop getroffen. „Bourjeily war von der libanesischen Zensur derart frustriert, dass er eine Satire schrieb, die innerhalb der
Zensurbehörde spielt – mit dem Titel „Will It Pass Or Not?“ Dann reichte er das Stück wahrhaft heroisch und dreist beim Ministerium zur Genehmigung ein. Es wurde (natürlich) sofort verboten, Luciens Reisepass anschließend beschlagnahmt.“ Wobei ihr Adem im „Spiegel“ nicht Lucien ist und Holcroft ihr Stück (2023 veröffentlicht) in einem fiktiven Land ansiedelt, mit dem tragischerweise immer mehr Staaten Ähnlichkeiten annehmen.
Zurück zum „Spiegel“: In seiner Kunstfreundlichkeit organisiert Čelik einen Workshop mit dem schreibenden Automechaniker und dem mittlerweile gefeierten Theaterautor Bax (Adrian Stowasser, switcht wenn’s hochzeitlich zugeht in den Trauzeugen). Auch den habe er gefördert und auf den rechten Weg gebracht, das Richtige zu schreiben…
Und da geht’s dann richtig rund. Im nächsten Schreibauftrag sollte Adem als Teilnehmer einer berühmten Schlacht von Kelline seine Erfahrungen in ein Stück verarbeiten. Bei diesem kleinen Workshop schlüpfen Čelik, Adem, Bax und Mei, bisher an den Rand gedrängte dienende Beamtin, nun aufblühend in ihrem soldatischen Element, in die Rollen von Bax‘ Erfolgsstück „Hauptmann Fikris Sichel.“
Durchgespielt, erlaubt sich Adem deutlich kundzutun, dass es sich so genau nicht zugetragen hat, ja nicht einmal möglich gewesen wäre…
Ab da kippt die Stimmung. Der Ober-Kulturbeamte sieht keine Chance mehr, den jungen Neo-Autor au Linie zu bringen. Wie sich das weiterentwickelt? Das Stück und die Inszenierung sowie das Schauspiel leben schon auch von den immer wieder überraschenden Wendungen…
Wie bei Orwells Klassiker geht es bei Holcroft zentral um die Frage von Wahrheit vs. Zurechtbiegen derselben. Allerdings legt die Autorin ihrem Protagonisten Čelik immer wieder auch durchaus schlaue Sätze in den Mund, Gedanken, die durchaus etwas für sich haben und nicht nur verwerflich scheinen.
Wobei sie Bax doch sagen lässt, dass der mehrmals als Vertreter der dumpfen, harten Zensoren genannte Garmsh wenigsten ehrlich sei. „Er schlägt die Leute. Du… verführst sie. Er reißt etwas aus den Skripten heraus. Du reißt etwas aus den Leuten heraus – Nein, nein, das stimmt nicht – du bringst uns dazu, etwas aus uns herauszureißen… was du tust, ist … viel heimtückischer“, hält er Čelik vor.
Neben der Auseinandersetzung um Wahrheit, Kunstfreiheit, Machtstrategien – brutal oder subtil – spielt auch eine weitere Handlungsebene eine Rolle: Mei, obwohl Sachbearbeiterin wird von Čelik eher als Sekretärin behandelt. Selbst als er ihr Theaterbesuche ermöglicht, lässt er mehr als nur durchblicken, dass er sich dabei mehr erwarte. Und als sie gar Adem privat besucht, ist auch sie auf seiner Abschussliste.
Der den Feinsinnigen Gebende trägt übrigens immer Handschuhe (Kostüme wie fast immer im Spielraum: Anna Pollack), was transportiert, dass er sich ja nicht die Hände schmutzig machen will.
Als Zeichen der „Sauberkeit“ sind alle Bühnenelement in weiß gehalten, genial der wandelbare große Schrank, als „Fotobox“ für die Hochzeitsbilder, als Teil des kleinen Wohnraums von Adem einer- und auf der anderen Seite des ebenso mickrigen Verschlags von Bax, als der auf dem absteigenden Ast ist… Für die Bühne zeichnen J-D und Samuel Schwarzmann verantwortlich, die beide auch kurze Schauspielauftritte haben. Wobei Samuel Schwarzmann eine weitere Brücke zur „1984“-Inszenierung vor einem Jahr darstellt. Da er bei einigen Terminen im November anderweitig im Einsatz ist, übernimmt mit Dana Proetsch ebenfalls eine Schauspielerin aus dem Spielraum-Orwell-Klassiker die beiden kleinen Rollen.
Von Sam Holcroft
Deutsche Fassung: Lucas Rosenstengel
Ca. 2 ¼ Stunden (keine Pause)
Schauspiel
Čelik / Standesbeamter: Paul Wiborny
Adem Nariman / Bräutigam: Paul Graf
Mei / Braut: Anna Zöch
Bax / Trauzeuge: Adrian Stowasser
Hochzeitsgast: Samuel Schwarzmann / 7., 8., 21. und 22. November 2025: Dana Proetsch
Leitender Beamter: J-D Schwarzmann
Inszenierung: Gerhard Werdeker
Bühne: J-D und Samuel Schwarzmann
Kostüme: Anna Pollack
Bühnenmusik: Bernhard Jaretz
Lichtdesign: Tom Barcal
Dramaturgie: Nicole Metzger
Aufführungsrechte: LITAG Theaterverlag München
Bis 22. November 2025
Theater Spielraum: 1070, Kaiserstraße 46
Telefon: 01 713 04 60
office@theaterspielraum.at
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