„Odyssee 2021“ Stationentheater vor und in der Theater Arche (Wien-Mariahilf) mit Texten von Klassikern und zeitgenössischen Autorinnen.
Ein sehr intensiver, dichter, durchaus auch fordernder Theaterabend erwartet die Besucher:innen von „Odyssee 2021“ in den Räumen der „Theater Arche“ in Wien-Mariahilf. Es ist – wie hier schon in einer Reportage über einen Probenbesuch und in einem Interview mit Helena May Heber, einer der 15 Mitspieler:innen, die auch live an einer Sandstein-Skulptur arbeitet (und für die gesamt Ausstattung zuständig ist) beschrieben, ein Mix aus klassischen Texten der Weltliteratur und neuer extra dafür verfasster Texte zeitgenössischer Autorinnen.
Dieses Stationentheater beginnt jeweils – bei trockenem Wetter – im Freien, immer woanders. Bei jener Aufführung, die der Rezensent erleben durfte, in der Magdalenenstrßae – zwischen einem ehemaligen Amtsgbäude, das heute mehrere Ordinationen eines Frauengesundheitszentrums beherbergt und einem Antiquitätenkalender. Elf der 15 Spieler:innen stehen in Formation und sprechen im Chor „ich bin Odysseus“ samt manch brutaler Station seiner Irrfahrt. Auf dem Weg ins Theater schlüpfen einige der Schauspieler:innen bereits in ihre späteren Rollen in den drei verschiedenen Räumen.
Da ist etwa Nagy Vilmos in Anzug und Krawatte, der sich später in einem roten, samtenen Salon mit mehr als zwei Dutzend Spiegeln von Charlotte Zorell als Domina den Hintern und mehr versohlen lassen wird. Texte aus James Joyce’s Ulysses erfüllen diesen Raum, in dem die geschilderte Szenerie sich stets abwechselt mit Passagen der Molly Bloom, die Elisabeth Halikiopoulos sich auf einem roten Sofa räkelnd, lustvoll rezitiert.
Gleichzeitig – das Publikum ist in drei Gruppen geteilt – sinnieren in einem Irish Pub Marc Illich und Eike N. A. Onyambu als Rodion Romanovich Raskolnikov in Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ (vormals als „Schuld und Sühne“ bekannt) über den Mord an der Pfandleiherin – und der damit verbundenen Suche nach sich selbst. Pia Nives Welser und Tom Jost bespielen diese Szene ebenfalls – als Wirtin der Spelunke sowie dem zynischen „Gönner“ Arkadi Iwanowitsch Swidrigailow. Onyambu agiert aber nicht nur als einer der beiden gespaltenen Persönlichkeiten Raskolnikows, er sorgt mit seiner Geige ebenso für eine Grundstimmung der Szene wie Ruei-Ran Wu hier mit dem Akkordeon.
Im Theater-Foyer, dem dritten der Stationenräume, hämmert und meißelt die oben schon genannte junge Schauspieler, Musikerin, Bildhauerin an der Skulptur und spricht Sätze aus einem Penelope-Text von Marlene Streeruwitz. In einer Nische gegenüber durch von der Decke hängende schwarze Fäden, die an Wänden und Decke ein Labyrinth andeuten, wie in einer Art Zelle kauert Amélie Persché, spielt Bratschenklänge und -geräusche bzw. spricht Texte von Theodora Bauer. Laaaaaaaangsam durchschreitet in klitzekleinsten Schritten Manami Okazaki (Co-leiterin des Theaters) den Foyer-Gang mit Worten aus einem Monolog, den Lydia Mischkulnig für diesen Theaterabend geschrieben hat und der sich mit dem Tsunami samt Reaktor-Unfall von Fukushima (Japan) bezieht. Hinter der Bar stehend, wirft Max Glatz hin und wieder Sätze aus James Joyces „Ulysses“ ein.
Als zweiter Akt – scheint nicht zuletzt um den Wechsel der drei Gruppen zwischen den Räumen logistisch zu erleichtern – ist im großen Theatersaal für alle gemeinsam ein Gang in die Hölle vorgesehen: Choreografiert von Pia Nives Welser sprechen Nagy Vilmos und Tom Jost abwechselnd Texte aus dem Inferno von Dante Alighieris „Die Göttliche Komödie“. Begleitet von den diesfalls Musiker:innen Helena May Heber, Amélie Persché und Ruei-Ran Wu sehen wir die Gefangenen Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg Rücken an Rücken und um sie in immer engeren Kreisen, sich immer gebückter bewegend die Höllenbewohner:innen Max Glatz, Marc Illich, Manami Okazaki, Charlotte Zorell, Eike N. A. Onyambu, Pia Nives Welser selbst sowie Claudio Györgyfalvy. Letzterer crasht in den drei zuvor genannten einzelnen Stationen als antiker Odysseus immer wieder die Szenen. Womit er auch aufmerksam macht, dass alles andere auch Irrfahrten zu sein scheinen.
Nach rund eineinhalb Stunden – Prolog im Freien, eine der Stationen, Hölle im großen Theaterraum und den beiden anderen Stationen – kommt der große Schlussteil – vorwiegend mit neuen, extra dafür verfassten Monologen von Autorinnen, die der Theater-Co-Leiter, Regisseur des Abends, den er sich auch ausgedacht hatte, Jakub Kavin unter dem Arbeitstitel aktuelle, moderne Odyssa erbeten hatte. Neben Texten der schon genannten Streeruwitz, Bauer und Mischkulnig collagierte Kavin Beiträge von Miroslava Svoliková, Kathrin Röggla, Sophie Reyer und Margret Kreidl. Dazu noch Passagen der weltweit beachteten Poetry-Slam-artigen Rede Amanda Gormans bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden und Sätze aus Homer, Dostojewski, Joyce sowie einem Text Thyl Hanschos für einen zukünftigen Odysseus.
Hier ist das gesamte 15-Personen-Ensmeble im Einsatz. Sprache kommt abwechselnd von der einen oder dem anderen. Aber alle sind fast immer in Bewegung – wenngleich meist in Super-Zeitlupentempo. Vergangenheit vermischt sich mit Gegenwart und Ausblicken in die Zukunft. Suche. Suche. Suche. Sehn-Suuuuch-t. Und die Langsamkeit zwingt fast zwangsläufig dazu, eigene Gedanken nach Irr- und Auswegen, die sich ins Gehirn – oder auch „nur“ Gefühl schleichen, nicht ausblenden zu können.
ein immersives Stationentheater
Rund drei Stunden
Autorinnen: Theodora Bauer, Margret Kreidl, Lydia Mischkulnig, Sophie Reyer, Kathrin Röggla, Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova
Mit Texten auch von: Dante Alighieri, Fjodor Dostojewski, Homer, James Joyce, Amanda Gorman
Idee, Dramaturgie und Regie: Jakub Kavin
Darsteller:innen: Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N. A. Onyambu, Amélie Persché, Ruei-Ran Wu, Pia Nives Welser, Charlotte Zorell
Musikalische Leitung: Ruei-Ran Wu
Ausstattung: Helena May Heber
Choreographie: Pia Nives Welser, Claudio Györgyfalvay, Marc Illich
Dramaturgische Mitarbeit: Thyl Hanscho
Technik: Piers Erbsloeh
Grafik: Bernhardt Jammernegg
Produktionsleitung: Manami Okazaki
17., 18., 23., 24. und 25. September 2021
1., 2., 19., 20., 22., 23. und 24. Oktober 2021
4., 5., 6., 8., 9., 10. und 11. November 2021
Jeweils: 18.30 Uhr
Theater Arche: 1060, Münzwardeingasse 2a