Utopia-Theater tourt mit dem weniger bekannten Nestroy-Stück „Lady & Schneider“ über einen opportunistischen Möchtegern-Aufsteiger durch Wiener Gemeindebau-Höfe und Parks.
Nestroy – der Name dieses Theaterdichters steht seit 200 Jahren für satirisches (gesellschafts-)politisches Theater mit (leider) zeitlosen Themen. Seine vor allem in den Couplets (Gesangseinlagen) eingebauten Seitenhiebe mit tagesaktuellen Bezügen zu seiner Zeit animier(t)en Inszenierungen natürlich dazu, solche Anspielungen den zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten anzupassen.
Manche der Nestroy’schen Stücke sind fast Dauerbrenner, etwa jener Klassiker gegen Vorurteile „Der Talisman“ – denn ob Menschen wie die zentrale Figur darin Titus Feuerfuchs seiner roten Haare wegen oder aufgrund von Hautfarbe, Religion, Herkunft, Aussehen oder warum auch immer diskriminiert werden – die Struktur ist dieselbe. Oder wie Nestroy es in einem Halbsatz im Talisman auf den Punkt gebracht hat: „So kopflos urteilt die Welt über die Köpf’“.
Es gibt aber auch eine Reihe von Stücken, die kaum bekannt sind. Heuer standen etwa bei den Nestroy Spielen in Schwechat „Die Zauberreise in die Ritterzeit“ auf dem Programm (Motto: „Früher war alles besser!“). Und das Utopia Theater, das seit mehr als einem halben Jahrzehnt vor allem in Höfen von Gemeindebauten oder Parks und täglich woanders fürs Publikum kostenlos spielt, tourt in diesem Sommer mit „Lady & Schneider“.
Hier hatte Nestroy – wie auch für ein paar andere Stücke – sich beim französischen Autor Eugène Sues bedient, im Konkreten bei dessen Fortsetzungsroman „Les Mystères de Paris“ (Die Geheimnisse von Paris; 1842 bis 1843 in der Pariser Tageszeitung „Le Journal des débats“). Im Vordergrund steht eine Intrigengeschichte des jungen Adeligen Paul gegen seinen nur wenig Minuten älteren Zwillingsbruder Friedrich (Christopher Korkisch spielt beide – lediglich durch anderes Sakko bzw. aufgeklebtem Schnurrbart zu unterscheiden). Wenn dessen Hochzeit mit Lady Bridewell (Tina Haller) platzt, würde der Vater den Älteren enterben, der Jüngere käme zum Zug.
Paul und der Sekretär der Baronin Adele Kargenhausen (Pauls Braut, die hier nur erwähnt wird) namens Fuchs (Bernhardt Jammernegg) suchen nach einer Falle. Und finden die Gelegenheit in der Vorstadt-Schneiderei von Meister Restl (Thomas Bauer), seiner Tochter Lina (Barbara Edinger) und deren Bräutigam und Restl-Nachfolger Hyginus Heugeign (Andreas P. Seidl). Mit einem aufreizenden Kleid „verkleidet“ will die Baronesse beim Ball des Grafen Hohenstein dem Friedrich den Kopf verdrehen – dessen Hochzeit somit platzen lassen und …
Bei just derselben Schneiderei lässt sich allerdings nun die Lady und designierte Friedrich-Braut ebenfalls ihre Ball-Garderobe (Kostüme: Stefanie Elias) anfertigen.
Ist diese Ausgangsstory schon kompliziert genug – mit von der Partie ist in dieser Inszenierung im Gegensatz zur Baronesse die Vertraute der Lady Bridewill, Miss Kemble (Natalie J. Obernigg), so wird’s noch verwickelter, weil zwischendurch noch Lina das Kleid probieren soll und Friedrich bei anderer Gelegenheit Gefallen an Lina, im Stück oft Linerl genannt, gefunden hat.
Die intrigante Verwechslungskomödie ist aber nur der vordergründige für so manche Situationskomik und damit etliche Lacher Anlass gebende Plot. Im Zentrum hingegen stehen die politischen Ambitionen des jungen Schneiders – wobei politisch? Überzeugung? Keine. Oder jedwede beliebige. Einzig und allein: Er will an die Spitze, „koste, was es wolle“. Übrigens nannte Nestroy sein Stück ursprünglich „Der Mann an der Spitze“ – und er spielte bei der Uraufführung selber den Hyginus Heugeign (Februar 1849, Carltheater). Damals hieß es im Text „Sie müssen mich noch wo an die Spitze stellen, sey’s Bewegung oder Clubb, liberal, legitim, conservativ, radical, oligarchisch oder gar kanarchisch, das is mir alle eins, nur Spitze!“
Wie schon das eben eingestreute Zitat davon, dass es wurscht ist, was es kostet, streut das tapfere „Spitzen“-Schneiderlein ein Zitat nach dem anderen aus der heimischen Polit-Debatte der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ein – „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist“, „was woar mei Leistung?!“, „es gibt kein Weiter wie bisher!“ gleichzeitig stilisiert er sich auch auf zum „Ich bin das Volk!“. (Bühnenfassung und Regie: Peter W. Hochegger; Komposition und Couplets: Helmut Strobl). In den hochrangigen Auftrag geheimnist er gleich seine eigenen Aufstiegs-Chancen hinein.
Da alle Aufführungen im Freien – mit so manchem Umgebungslärm, beim Besuch von KiJuKU im Eiselsberghof am Bacherplatz in Margareten (5. Bezirk) flogen alle paar Minuten Flugzeuge relativ niedrig über das Geschehen, ist die Mikro-Verstärkung, die live von Martin Hornig gesteuert wird, umso wichtiger. Auf- und Abgänge auf die Bühne und den Platz davor, auf dem einiges vom Geschehen spielt, geht nicht selten zwischen den Publikumsreihen. Eine sogenannte vierte Wand gibt es bei dieser Spielweise nie.
Und trotz der verworrenen Intrigen plus den „Spitzen“-Wünschen der Zentralfigur gelingt es dem Ensemble dem Publikum übersichtliche, fast hautnahe humorvolle 1½ Stunden zu verschaffen.
Zu einem Interview mit der Darstellerin der Schneiderstochter Lina, Barbara Edinger, die erstmals bei einem Utopia-Stück mitspielt, geht es in einem eigenen Beitrag.
Nach Johann Nestroy – und der wiederum nach der literarischen Vorlage von „Les Mystères de Paris“ von Eugène Sue
Utopia Theater
Friedrich & Paul von Hohenstein: Christopher Korkisch
Fuchs, Sekretär der Baronin Kargenhausen: Bernhardt Jammernegg
Lady Bridewell, Unternehmerstochter: Tina Haller
Miss Kemble, Vertraute der Lady: Natalie J. Obernigg
Restl, Schneider: Thomas Bauer
Lina, seine Tochter: Barbara Edinger
Hyginus Heugeign, Schneider und Bräutigam von Lina: Andreas P. Seidl
Bühnenfassung, Regie und Organisation: Peter W. Hochegger
Komposition / Couplets: Helmut Strobl
Kostüme: Stefanie Elias
Technik: Martin Hornig
Bis 5. September 2025
fast täglich – immer an anderen Orten, meist in Höfen von Wiener Gemeindebauten oder in Parks
utopia-theater -> Termine
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