Mit wenigen äußerlichen, aber vielen schauspielerischen Mitteln spielte ein Duo von „TheaterGrueneSosse und Theaterhaus Ensemble (Frankfurt, Deutschland) den Erfolgsroman Sten Nadolnys beim Festival „Luaga & Losna“ im Vorarlberger Feldkirch.
Ein großer, leicht scheinender doch gewichtiger Tisch, eine Lichterkette mit subtilem Anklang an eine solche auf einem Segelboot. Zwei Leute betreten von hinten durch den Vorhang die Bühne im Theater am Saumarkt im Vorarlberger Feldkirch. Hier steht im Rahmen des aktuellen „Luaga & Losna“-Festivals die einzige Vorstellung auf dem Programm, die sich nicht an junge Kinder richtet. Ab 12 und nicht zuletzt für Erwachsene lassen hier Friederike Schreiber und Günther Henne von „TheaterGrueneSosse und Theaterhaus Ensemble (Frankfurt, Deutschland) einen Wesenszug der Hauptfigur in Sten Nadolnys Kult-Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ lebendig werden.
„John Franklin war schon 10 Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baumes reichte sie herüber bis in seine empor gestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels…“
Die echten ersten Sätze des Buches – so wie viele andere Passagen über diesen britischen Seefahrer und leidenschaftlichen Polarforscher – gepaart mit von Nadolny durchaus ausgedachten Szenen las das Duo – scheinbar, in Wahrheit hatten sie den Text – gemeinsam mit dem szenischen Spiel verinnerlicht.
Vor sich die Blätter in den ersten Minuten und immer wieder auch zwischendurch, machen sie aus dem Tisch ein Schiff (Bühnenbau: Detlef Köhler), ein Ventilator hilft bei der Darstellung von Stürmen, in die das Segelboot gerät.
Kernaspekt aus dem Roman, von dem sicher viiiiiel mehr Menschen den Titel und als Inhalt oder den Text kennen, ist die Langsamkeit, die vom lange Zeit den Titelhelden in seiner Kindheit und Jugend begleitendem Nachteil zu einem Vorzug aufgrund bedächtig gefällter Entscheidungen führt(e). Nadolny, der vieles, unter anderem Geschichte studierte und sogar unterrichtet, hatte viele Unterlagen über den historischen John Franklin (1786 – 1847) durchgeackert, zu weniger bekannten Phasen dachte er sich einiges aus. Den Charakterzug der Langsamkeit, „den der wirkliche Franklin nach Auskunft der Quellen möglicherweise hatte, aus dem er aber wohl nicht systematisch eine Tugend gemacht hätte“ (Stefan Munaretto, Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny. Textanalyse und Interpretation. Königs Erläuterungen und Materialien, Band 427 – siehe Info-Box am Ende) rückte der Autor ins Zentrum.
Und diese verkörpern die beiden Schauspieler:innen, ohne sie je übertrieben zu zelebrieren. Selbst wenn sie einigermaßen hektisch durch die Gegend – in dem Fall die Publikumsreihen wandern, über Sitze klettern, strahlen sie keine Hektik aus (Regie: Leandro Kees, der auch mit den beiden die Textfassung aus dem Roman destilliert hatte).
Hin und wieder schlüpfen sie doch in verteilte Rollen auch anderer Protagonist:innen in John Franklins Leben, vor allem stellen sie ihn und seine Haltung, seine Suche – unausgesprochen nach dem Horizont als Fixpunkt – dar. Und selbst in den heftigen Sequenzen einer Seeschlacht mit einem Schiff der französischen Marine oder in wildesten Stürmen, strahlen sie aus: Der Typ steht zu sich und seiner damit in die Außenseiterrolle gedrängten markanten Eigenschaft. Das Schauspiel von Schreiber und Henne lässt sowohl die anfängliche Ausgegrenztheit als such die spätere Stärke spüren.
Was – so erzählen die beiden im abendlichen Inszenierungsgespräch mit Teilnehmer:innen des Symposions „Theater & Bild & Ton“ (und anderen Interessierten) – nach den ersten Vorstellungen in Frankfurt durchaus auch gegenteilige Jugendliche ge- und bestärkt habe, etwa solche bei denen ADHS – also eher Hektik – diagnostiziert wurde.
Der vor knapp mehr als 40 Jahren erschienene Roman (mit einem Kapitel daraus hatte Nadolny drei Jahre zuvor den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen – und sein Preisgeld auf alle Teilnehmer:innen verteilt) wurde immer wieder auch als Art Statement gegen übertriebene und vor allem ungesunde Hektik, Missachtung der Lebenszyklen von Natur und Mensch interpretiert. Die Hauptfigur, die noch auf Segelschiffe setzt, während andere schon mit Raddampfer unterwegs sind. Hier bog auch Nadolny eine späte Expedition John Franklins ein wenig zurecht, dessen reale Schiffe schon maschinell ausgestattet waren.
Auch schon Michael Endes „Momo“ – zehn Jahre vor Nadolnys bekanntestem Roman erschienen – hielt ein Plädoyer für das reale Leben im hier und jetzt und gegen die grauen „Zeitdiebe“. Die Welt hat sich zwar „nur“ in der gleichen Geschwindigkeit weitergedreht, die Hektik der (allermeisten) Menschen, Zeitdruck, hat um ein Vielfaches zugenommen. Das was schon vor 50 und 40 Jahren beklagt worden war, dass damit nicht nur menschliche Beziehungen beeinträchtigt, sondern oft die Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmend verloren gehen könnte, hat sich potenziert. Hektische Bild- und Schnittfolge in Videos und Filmen – da setzt diese Version der Dramatisierung des Romans durch ihre Spielart viele Momente entgegen, sich auf das Loblied der Langsamkeit einzulassen.
„Wie dem – wie immer im „Spielraum“ umfangreichen, hintergründigen – Programmheft (wahrscheinlich den besten der Stadt) zu entnehmen ist, hatte das Schicksal der bei ihrer letzten Expedition im ewigen Eis verschollenen Forscher, namentlich John Franklins, Sten Nadolny schon als Schüler interessiert. Das schreibt er im Einleitungsabsatz eines Artikels für die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ Anfang 2023 anlässlich des 40. „Geburtstages“ dieses Romans. Damals träumte er davon, selber eine Expedition zu leiten, um die verschollenen Schiffe bzw. eventuelle Überreste zu finden. Um viel später daraus einen Roman zu schreiben.“ (KiJuKU, November 2023)
Compliance-Hinweis: KiJuKU wurde von Luaga & Losna zur Berichterstattung nach Feldkirch (Vorarlberg) eingeladen.
Eine minimalistische Performance nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman von Sten Nadolny
TheaterGrueneSosse und Theaterhaus Ensemble / Deutschland
Text: Sten Nadolny, in einer Bearbeitung des Ensembles in Zusammenarbeit mit Leandro Kees
Regie: Leandro Kees
Spiel: Friederike Schreiber, Günther Henne
Regieassistenz & Produktionsdramaturgie: Sophie Hübner
Dramaturgische Beratung: Ossian Hain
Technische Konzeption: Sebastian Schackert, Lars Löffler
Bühnenbau: Detlef Köhler
Ab 12 Jahren
theatergruenesossen-> Langsamkeit
Text: Sten Nadolny
Die Entdeckung der Langsamkeit
317 Seiten
Piper Verlag
Taschenbuch: 14,40 €
eBook: 10, 99 €
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Text: Stefan Munaretto
Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny. Textanalyse und Interpretation.
Königs Erläuterungen und Materialien, Band 427
93 Seiten
Bange, C., Verlag GmbH
Taschenbuch: 15 €
eBook: 6,49 €
36. internationales Theaterfestival für ein junges Publikum
Bis 7. September 2024
6800, Feldkirch (Vorarlberg)
Spielorte:
Theater am Saumarkt: 6800, Feldkirch, Mühletorplatz 1
Pförtnerhaus: 6800, Feldkirch, Reichenfeldgasse 9
Infos: luagalosna -> feldkirch-2024