Der Finalbeitrag des diesjährigen Gewinners des Jugendliteratur-Wettbewerbs texte.wien, Severin Weh.
Es ist Montag und wieder Wechsel. Ich mache mich auf den Weg. Mit dabei habe ich einen Koffer und einen Rucksack. Sie füllen sich jede Woche erneut und entleeren sich wieder. Im ständigen Kreislauf des Eingepackt- und Ausgepacktwerdens wirkt mein Reisegepäck zunehmend mitgenommen. Das Rütteln der Waggons macht mich schläfrig. In Begleitung meiner Eltern habe ich oft durchgeschlafen. Jetzt nicht mehr. Ich darf die Station nicht verpassen.
Vater begrüßt mich und nimmt mir die Taschen ab. Er erkennt die Schwere und holt den Aufzug. Ich komme mit den Sachen über die Treppe nach. Es ist schon alles vorbereitet. Man hat sich, so wie ich auch, auf diese Woche eingestellt. Beide Seiten wissen, dass es viel länger nicht gehen würde. Wir sitzen in der Küche und Vater macht Abendbrot. Es riecht würzig. Das Essen ist gut. So wie immer. Jetzt liege ich im Bett. Den Raum teile ich mit dem Büro meines Vaters. Das Bett steht mir zu.
Alle sind nun in ihren engen Zimmern mit vier Wänden verschwunden und die Lichter sind ausgegangen. Ich warte. Als die Nacht hereinbrach, schreckte ich kurz auf. Sie riss die Tür aus ihren Angeln. Seitdem habe ich drei Wände und ein Loch. Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Der Wind zieht durch das Loch. Die Decke ist etwas dünn.
Der Speisewagen ist überfüllt. Ich begnüge mich mit Gratis OEBB-Mineralwasser und kleinen Crackern, die ich mit Ketchup, Mayonnaise und Senf zu einem leckeren Curry vermansche. Nach Attnang-Puchheim sind es noch drei Minuten.
Mutter öffnet mir die Tür. Sie ist nicht überrascht. Sie erinnert mich, dass erst Mittwoch die Putzfrau da war. Ich ziehe die Schuhe aus. Hänge die Jacke auf meinen Haken und ziehe die Gästehausschuhe an. Ich nehme Tasche und Rucksack und trage beides nach oben. Der Zugvogel ist im Zimmer. Hier sind alle Wände da. Eine legt sich schief über das Bett. Auf der Decke leuchtet eine Figur, die einer Schwalbe. Ihre Flügel spannen weit aus. Es wirkt aber nicht so, als ob sie fliegen könnte. Sie ist festgefroren. Als hätte man sie an die Wand gepappt. Wir verstehen uns.
Letzte Woche bin ich schon am Sonntag losgefahren. Wir wissen noch nicht, wo wir dieses Jahr Weihnachten feiern werden. Mutter fragt, ob wir es dieses Jahr anders machen wollen. Jedes Jahr ist anders. Sie gibt mir einen Kuss. Sie sagt, ich könne jederzeit wiederkommen. Aber ich soll vorher anrufen, sagt sie.
Ich steige also wieder in den Zug. Er fährt ab. Ich sitze auf meinem zugewiesenen Platz und warte ab. Nach Linz sind es noch zehn Minuten. Die Sonne strahlt schräg durch das Fenster. Drei Reihen weiter weint ein Mädchen. Vater und Mutter können nicht gemeinsam neben dem Kind sitzen. Es gibt nur Platz für zwei. Die Mutter drückt ihr Kind an die Brust und streicht ihr tröstend über den Kopf. Draußen fliegen Schwalben vorbei. Vorbei in den Süden.
Vater will nicht fragen, es geht ihn ja auch nichts an, meint er. Was wohl im Leben der Mutter vorgehen würde. Vater erzählt uns von seiner Idee, über die Ferien wegzufahren. Vielleicht mit dem Auto. In die Berge und noch dahinter bis ans Meer, wo die Schwalben rasten. Ich soll Mutter aber nichts sagen. Am Abend spielen wir ein Brettspiel. Ein Spiel für die Spieler am Tisch. Für die Familie. Es geht um die Stärkung der Empathie. Man soll die anderen spüren. Wir aber müssen nach der ersten Runde abbrechen.
Während ich auf den Zug warte, vergeht die Zeit. Ich blicke ihr nach. Zug um Zug rollt ab. Wie ein Pendel in der Uhr schwingen sich Menschen auf Züge und fallen an anderen Orten wieder raus. Dann fährt auch meiner. Ich bin ein Pendler, der am Sonntagabend im Zug sitzt. Ein Mitreisender legt mir nahe, die Pendlerpauschale zu beantragen.
Wir essen Kuchen. Er ist von der guten Konditorei. Dort wo die guten Kuchen herkommen. Deshalb essen wir oft Kuchen. Heute haben wir aber eine Auseinandersetzung. Mutter und ich. Nicht wegen des Kuchens. Mutter zieht ihren Mantel an. Sie bindet ihre Schuhe. Sie dreht sich nicht um. Man hört das Knallen der Tür, sie ist weg. Ihre gute Cremeschnitte liegt auf der Seite. Ich weiß nicht genau, wie lange es dauern wird. Aber ich warte.
Ich bin den Eltern dankbar, dass sie mir die Fahrkarten bezahlen. Sie sind doch recht teuer. Das Fahren ist schön.
Es ist Montag und wieder Wechsel. Ich mache mich auf den Weg.
Severin Weh, 19