Drei Notenständer, ein Instrument. Während Anna Starzinger Platz – und ihr Cello – nimmt, hin und wieder musikalisch die jeweiligen Emotionen von „Adressat unbekannt“ untermalt, verstärkt, hervorhebt oder überhaupt erst richtig zum Ausdruck bringt, lesen ihre beiden Bühnenkollegen Samuel Pock und Benjamin Spindelberger abwechselnd aus Briefen.
Ersterer schlüpft in die Rolle von Max Eisenstein, Betreiber einer Kunstgalerie im US-amerikanischen San Francisco. Zweiterer liest die Briefe des ehemaligen Galerie-Mitbetreibers und Freundes Martin Schulse. Dieser ist 1932 wieder nach Deutschland zurückgekehrt, wo Ersterer auch studiert hat.
Der Briefwechsel ist ein fiktiver, geschrieben von der US-Autorin Kressmann Tayler, die bei der Veröffentlichung 1938 ihren Vornamen bewusst nicht nannte, sie wollte ihr Geschlecht nicht preisgeben. Ihr knapp 80 Seiten-Buch umspannt den ausgedachten Zeitraum vom 12. November 1932 bis 3. März 1934. Und mit Hilfe der beiden Männer, die sich zunächst über ihre Freundschaft sowie die Geschäfte unterhalten, vermittelt die Autorin die politische Entwicklung in Deutschland. Und obendrein, wie sich Menschen verändern konnten. Wobei sie das in einer Art tut, die fast automatisch die Frage aufwirft: Ist das wirklich nur eine (fiktive) historische Geschichte?
Der weltoffene, kunstaffine Martin findet Gefallen an Herrn Hitler – und nicht nur das, er übernimmt sogar Funktionen in dessen Nazi-Partei, er und seine Frau nennen ihren jüngst geborenen Sohn Adolf!
Und als Max ihn bittet, sich umzuhören, was mit dessen Schwester Griselle los ist, die in Wien Schauspielerin wurde und dann nach Berlin zog. Immerhin habe er in den USA von ihr seit Wochen nichts mehr vernommen. Da wird’s recht atemberaubend. Details seien hier keine verraten, vielleicht willst du/wollen Sie ja diese spannende, teils aber schon recht heftige szenische Lesung bei Gelegenheit auch besuchen. Das Büchlein selbst ist kaum bekannt.
Letztlich bittet Martin seinen einstigen Galerie-Kompagnon und ehemaligen Freund, er möge ja keine Briefe mehr schreiben – Kontakt mit einem Juden! Das könne ihm hier schaden, ja sogar in Gefahr bringen. Und dennoch behirnt er offenbar nicht, wie diktatorisch und einschränkend das System ist, für das er führend arbeitet, es intensiv verteidigt. Die Autorin lässt Martin nun sogar zum hetzerischen Schreiber gegen alles Jüdische werden.
So „nebenbei“ kommen aber bereits – das Buch erschien 1938(!) also ein Jahr vor Beginn des 2. Weltkrieges – massenhaft Verhaftungen Oppositioneller und Konzentrationslager zur Sprache. Das erste wurde ja auch schon 1933 in einer Militärschule bei Weimar eingerichtet. Aber nach 1945 behaupteten allzu viele Menschen, sie hätten nichts davon gewusst.
Susanne Höhne vom „Verein für darstellende Kunst Beseder“, die sich diese szenische Lesung ausgedacht und sie inszeniert hat, erzählt im Gespräch mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… auf die Frage, wie sie auf diese so dichte Darstellung der politischen Entwicklung in dieser Form gekommen sei: „Ich hab das Büchlein vor ungefähr 30 Jahren im jüdischen Museum Berlin gekauft. Immer wieder hab ich es im Hinterkopf gehabt und nun gedacht, das wäre vielleicht gut und notwendig, es jetzt aufzuführen.“
Beseder ist übrigens Hebräisch und bedeutet auf Deutsch „ok“, „alles gut“…
Zu einem Interview mit fünf Jugendlichen, die die szenische Lesung im Festsaal des Gymnasiums Hagenmüllergasse miterlebt hatten geht es hier unten.
Mit Daniel, Markus und Robin sowie Moritz und Theresa setzten sich fünf der Oberstufen-Schüler:innen, die zuvor die 1 1/4 -stündige szenische Lesung mit Cello-Begleitung, -Untermalung und … verfolgt hatten in eine Interviewrunde mit Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… Zu einer Besprechung dieser Veranstaltung geht es gleich hier unten.
Die ersten drei Genannten haben selber Theater-Erfahrung in der Bühenspielgruppe, Robin schreibt sogar am Stück, das ab Jänner geprobt und im Mai aufgeführt werden wird – ebenfalls in dem großen Festsaal hier im ersten Stock des Gymnasiums Hagenmüllergasse.
„Am Anfang hat es sich zwar ein wenige gezogen“, fügt Markus seinem allerdings ersten Satz hinzu: „Das Ende hat sich sehr spannend gestaltet, ab dort wo es direkter heftiger wurde in dem Briefwechsel der beiden und insbesondere Martin gar nicht mehr freundlich geschrieben hat.“
Theresa, die Jüngste – sie besucht die 6a, während die ersten drei Jungs in die 8b und Moritz in die 8a geht – meinte in ihrem ersten Satz: „Sehr, sehr gut. Gegen Ende schenken sie sich gegenseitig nichts mehr. Da hat auf einmal sogar Martin Angst, obwohl er vorher ja das System verteidigt hat.“
Daniel hebt neben dem inhaltlichen Spannungsbogen vor allem die Musik hervor, „die die Emotionen stark zum Ausdruck bringt“.
Markus verweist noch auf die deutliche Doppelmoral Martins. Am Ende, wo er selbst Angst hat, fleht er Max fast an, ihm ja nicht mehr zu schreiben, weil ihn der Kontakt zu einem Juden ja in Gefahr bringt. Aber als Max ihn gebeten hatte, sich um seine schauspielende Schwester, die aus Berlin flüchten musste, anzunehmen, da hat Martin sie glatt vor seiner Haustür von SA-Männern erschießen lassen.
KiJuKU wollte von den Jugendlichen auch wissen, ob sie sich möglicherweise in die Lage des einen oder des anderen hineinversetzen hätten können/könnten.
Robin packt zunächst die Erkenntnisse auch aus der Bühnenspielgruppe aus. „Wenn du eine Rolle spielst, musst du immer versuchen, nicht moralisch zu be- bzw. verurteilen, sondern dich in die Figur hineinzudenken. Bei Max ist das einfacher, weil der auch empathischer agiert.“
Daniel verweist auch auf den Aspekt der Propaganda, die offenbar bewirkt habe, wie schnell Martin sich von einem Liberalen zu einem Nazi entwickelt habe – im Übrigen ja nicht einmal Mitläufer, sondern mit führender Funktion in seiner Stadt.
„Und wie stark das schon in seiner Psyche verankert ist hat, zeigt ja auch, dass die Familie den jüngsten Sohn ausgerechnet Adolf nennt.“
Moritz konnte sich gut in Max hineinversetzen. Theresa merkte an, dass zwar Max Reaktion, weiter Briefe zu schreiben, um mehr zu erfahren, was Martin zu seiner Entwicklung getrieben habe, aber, „dass er ihn jetzt in Gefahr bringt, verstehe ich zwar, weil Martin ja Max‘ Schwester nicht geholfen hat, aber er macht sich ja jetzt auch schuldig, wenn ihm was passiert.“
Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… wollte dann noch wissen, ob die fünf Jugendlichen denken oder meinen, so etwas wie die Entwicklung in Deutschland vor rund 90 Jahren könne sich heute wiederholen.
Praktisch alle sehen Gefahren in bestehendem und leider auch (wieder) zunehmendem Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Ausgrenzung. Und diese können sich „dank“ Social Media schnellerer und größerer Verbreitung bedienen. Die seien noch effizienter als die Propagandamethoden der Nazis seinerzeit, meinte Moritz. „Und durch die Mittel von KI (Künstlicher Intelligenz) kann Hass-Propaganda noch überzeugender verbreitet werden“, gibt Daniel zu bedenken. Auf die Frage, wie damit direkt in der Schule damit umgegangen werde, kommt die erste spontane Antwort: „Unterschiedlich“. Die drei 8b-Schüler schwärmen fast von kompetenter Auseinandersetzung sowohl in Geschichte als auch in Deutsch, fügen aber gleich hinzu, „das ist in der Schule aber doch die Ausnahme. Wobei der Kollege aus der Parallelklasse hinzufügt, dass „wir uns aktuell in Geschichte und Ethik ausführlich mit dem brennenden Nahostkrieg beschäftigen. Auseinandersetzung mit Medienkompetenz spielt aber sonst bei uns weniger Rolle. Die Kollegin aus der sechsten wirft ein, erst seit Anfang dieses Schuljahres hierher gewechselt zu haben von einer privaten AHS weg und merkt an: „Dass Lehrerinnen und Lehrer in Privatschulen besser sind, ist ein Gerücht.“ Und ergänzt: „Ich finde es wichtig, dass Lehrkräfte Kindern und Jugendlichen nicht Meinungen aufdrängen.“
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