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Szenenfoto aus "Die Eingeborenen von Maria Blut"

„Maria Blut“ ist nicht nur fiktiv und nicht nur historisch

Eine riesige Marienstatue begleitet von zwei schwebenden Engels-Figuren (Bühne: Jessica Rockstroh) dominiert die Bühne – nachdem der schwarze Vorhang geöffnet wird. Als er noch geschlossen ist, schaut aus einem Spalt in der Mitte schüchtern eine Figur mit großem Puppenkopf hervor. Fünf andere – ebenfalls mit aufgesetzten großen puppenartigen Köpfen (Choreografie und Maskenarbeit: Mats Süthoff) gesellen sich dazu. Sie spielen die „Eingeborenen“ des Jubiläums-Wallfahrtsortes „Maria Blut“, eines fiktiven Dorfes sehr nahe bei Wien – Selbstbezichnung: „österreichisches Lourdes“. Zeit: die erste Hälfte der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, vor allem 1933.

Wie sich zwischen (Schein-)Heiligkeit, Gerüchten und Ausgrenzung dichter spinnen, Jüd:innen und „Bolschewik:innen“ (Kommunist:innen), einfach „Rote“ ausgegrenzt, zu Sündenböcken gestempelt und verfolgt werden, das beschrieb die Autorin vor 90 Jahren und bringt das Stück „Die Eingeborenen von Maria Blut“ im Akademietheater in einem Wechselspiel der genannten „Puppen“-Figuren, die immer wieder ihre künstlichen „Über“-Köpfe absetzen und nun mit menschlichen Gesichtern in Rollen des Arztes Lohmann (Philipp Hauß), des Rechtsanwalts Meyer-Löw (Dorothee Hartinger), der resoluten, die Dinge beim Namen nennenden Marischka, Haushälterin bei Meyer-Löw (Lili Winderlich). Letztere gibt auch die Notburga, die besonders bet-freudige Tochter des Wirten Heberger (Robert Reinagl).

Wanderungsamt

Ihren Bruder Vinzenz spielt Jonas Hackmann, der auch Adalbert, den Sohn des Arztes gibt und im Haus seine Hakenkreuz-Armschleife verliert. Als Vinzenz kriegt er nur schwer Worte oder gar Sätze heraus, spricht hingegen fließend, wenn er sich vorstellt als richtiger Krückelgruber (die Ähnlichkeit zu Schicklgruber, wie Adolf Hitlers Vater hieß, ist sicher beabsichtigt) Reden vor Tausenden zu halten.

Stefanie Dvorak ist besonders wandlungsfähig. Neben der Erzählstimme wird sie zur fanatischen jungen Frau Reindl, spielt aber auch die Haushälterin Toni beim Arzt, die von der Ausweisung durch das Wanderungsamt bedroht ist, „weil ich nämlich Tschechin bin“, was Dr. Lohmann mit der überraschten Frage quittiert: „Eine Tschechin? Seit wann denn das?“ – Toni: „Weil doch mein Vater ein Tschech war.“ Sie hingegen war noch nie in der damaligen Tschechoslowakei und kann auch kein Wort Tschechisch.

Und das kommt so bekannt, so heutig vor, wenn Kinder nach Georgien oder sonstwohin abgeschoben werden, obwohl sie kaum oder nie dort waren und die jeweilige Sprache praktisch nicht können.

Vertrieben, lange „vergessen“

Die erst – wie andere aus Österreich im aufkommenden Faschismus vertriebene Autorinnen – spät wieder entdeckte Maria Lazar (Verlag der vergessenen Bücher) hat in Wien im genannten Jahr begonnen „Die Eingeborenen von Maria Blut“ zu schreiben, sah und hörte genau hin und konnte damit ahnen, was auf sie – und alle anderen – zukommen würde/wird. Deshalb flüchtete sie schon so früh – nach Dänemark auf die Insel Thurø, wo sie – wie auch Helene Weigel, Bertolt Brecht u.a. von Karin Michaëlis aufgenommen wurde. Letztere hatte knapp nach dem ersten Weltkrieg Wien besucht und über die berühmte, freie (Mädchen-)Schule der Eugenie Schwarzwald das Buch „Die fröhliche Schule“ verfasst. In Dänemark beendete sie die Arbeit am Mikrokosmos Maria Blut, der den Makrokosmos offenlegt – immerhin hatte Adolf Hitler im Jänner 1933 in Deutschland die Macht übernommen und in Österreich wurde unter dem Austrofaschisten Engelbert Dollfuß das Parlament ausgeschaltet, erste politische Parteien verboten…

Marienthal

Maria Blut erinnert auch ein wenig an Marienthal, wo Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und u.a. die weltberühmte erste umfassende sozialwissenschaftliche Studie über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit durchgeführt haben, nachdem die dortige Textilfabrik zugesperrt hatte, von der im Ort die Allermeisten gelebt hatten.

Maria Lazar siedelt in ihrem fiktiven Ort eine Fabrik für „Raumkraft“ eines Herrn Schellbach an und nahm damit Anleihe bei dem realen Hochstapler Carl Schappeller, der sozusagen Luftgeschäfte betrieben hat.

Unverkrampfte Aktualitästbezüge

Das Spannende an dem nicht ganz zweistündigen Theaterabend in vielen Einzelszenen, die von einer Art Blitzlichtgewitter der Lichterkette rund um die Bühne getrennt werden ist, dass es nicht nur zeigt, wie früh schon eine wachsame, analytische Autorin erkannte, worauf hinaus die Geschichte läuft – am Ende wird aus der Pleite gegangenen Fabrik eine solche für Patronen und damit den kommenden Krieg. Die rückblickend offenliegende Entwicklung hat sie schon Jahre davor seziert und in nachvollziehbaren Szenen beschrieben – ernst, hin und wieder auch mit humorvollen Momenten, bei manchen bleibt das Lachen schon im Halse stecken.

Schon der Text, aber nicht zuletzt die Inszenierung (Regie: Lucia Bihler, die mit Dramaturg Alexander Kerlin auch die Stückfassung geschrieben hat) schaffen es – und das ganz ohne Krampf subtil aktuellen Bezüge herzustellen – neben dem schon oben beim „Wanderungsamt“ Genannten noch solche wir Rufe nach starken Männern, nach einem Messias, mit Abbau bzw. Gefährdung von demokratischen Einrichtungen, Auf- und Ausbau von Feindbildern, Gerüchten, die zu Hasskampagnen werden…

Messias

Dazu sei noch der folgende Dialog zwischen Arzt und Rechtsanwalt zitiert:
„Lohmann: Dass die Leute nie gescheiter werden. Singen und jubilieren, als hätten sie das schönste  Leben. Was hier im Ort allein alles passiert ist. Die Pleite mit der Konservenfabrik, die Urkraftaktion des Herrn Schellbach, Not und Arbeitslosigkeit, Krise, Verzweiflung – es nützt alles nichts, die Leute werden nie gescheiter.

Meyer-Löw: Weshalb sollten Sie auch? Durch Schaden wird man dumm. Solang es den Menschen gut geht, kann man sie noch ertragen. Wenn sie aber was zu fürchten haben, das liebe Leben selbst, da rutscht der alte Wunderglaube auf die Erde hinunter, der Herrgott allein tut es nicht mehr, wen schickt er also, natürlich den Messias, einen waschechten aus Fleisch und Blut. (Lärm von draußen.) – Was ist denn das? Da beginnt wohl der Fackelzug zum Jubiläum. So hab ich sie abmarschieren sehen, zu Hunderten, dann sind sie an den Stacheldrähten verreckt, zu Tausenden.“

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