An einer Seite lehnt eine hölzerne 2D-Gondel, an einer anderen Wand ein kleineres solches Schifferl. Vor der großen Gondel steht eine kräftig rote, große Gesichtsmaske. Der Großteil der Bühne wird von einem Gestell aus golden lackierten Stangen eines Baugerüsts beherrscht. An manchen Stellen haben einige der senkrechten Stangen blütenähnliche Gebilde als „Kopf“. Die senkrechten Stangen ruhen auf Rollen. Die gesamte Konstruktion ist somit fahrbar – was die Schauspieler:innen mehrfach unter Beweis stellen werden – und ein Klettergerüst.
Wir befinden uns im Kasino am Schwarzenbergplatz und dies ist eine der Spielstätten des Wiener Burgtheaters. Noch wird hier intensiv geprobt, am 25. November 2023 ist Premiere des rund 1 ½-stündigen Familienstücks „Herr der Diebe“ nach dem Roman von Cornelia Funke (2000 erschienen, einmal verfilmt – 2006, und mehrfach fürs Theater bearbeitet. In Wien wird eine neue Bühnenversion gespielt, die der Regisseur Rüdiger Pape auch selber geschrieben hat – dazu befragte ihn Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… in einem Interview, das als eigener Beitrag weiter unten verlinkt ist.
Vielleicht zunächst zwei Absätze über den Hauptstrang der Geschichte
Vor der bekannten „Tintenwelt“-Trilogie und nach der „Die wilden Hühner“-Serie veröffentlichte Cornelia Funke „Herr der Diebe“. Nachdem die Mutter von Bo(nifazius) und Prosper gestorben ist, droht deren nicht gerade kinderliebende Schwester Esther den kleinen Bo (5 Jahre) zu sich zu nehmen, Prosper hingegen nicht. Daraufhin flüchtet dieser mit dem kleinen Bruder nach Venedig, der Lieblingsstadt der Mutter. Esther beauftragt einen Detektiv, namens Victor Getz, die Kinder zu finden.
Diese finden in der italienischen Lagunenstadt Zuflucht bei einer Kinderbande von Dieben, die in einem alten, heruntergekommen, stillgelegten Kino – für die Stückversion wird dieses zu einem alten Theater (!) – leben. Ihr Anführer, der „Herr der Diebe“ heißt Scipio – und führt ein Doppelleben. Seinem Vater gehört nicht nur das Kino, sondern ziemlich viele Häuser. Aber er ist nie da, weshalb auch Scipio Zuflucht bei der Bande gefunden hat.
So, jetzt aber hinein in die Probenbeobachtung: Detektiv Victor (gespielt von Arthur Klemt, der noch in drei andere Rollen schlüpft), der sich mehrfach vorsagen muss, dass er genial ist, weil er immer wieder eher patschert (wienerisch für tollpatschig) auftritt, nähert sich dem „kleinen“ Bo (Samira Kossebau). Diesmal ist er geschickt, entlockt so manch Geheimnisse – als Kontrapunkt rutscht er gekonnt „ungeschickt“ von einer der Querstangen ab als er selbst fast seinen Beruf verrät.
Noch wirkt die Szene unrund, und so wiederholen die beiden sie. Das ist bei Proben auch ganz normal. „Lass es uns mal ruhiger machen!“, regt der Regisseur an, um Hektik aus der Szenen rauszunehmen.
In der nächsten Szene kommt die ganze Bande zusammen. Bos Bruder Prosper (Fabian Cabak), Wespe (Clara Liepsch), Riccio (Julia Pitsch) und natürlich der Titelheld „Herr der Diebe“, Scipio mit Vornamen (Julian von Hansemann). Bo darf ihn Scip nennen. Sie checken, dass der Kleine zu viel geplaudert hat, sie aber davon leben, dass niemand etwas über sie weiß. Shit. Und dann ist er da vorne noch, der Detektiv. Was wiederum Wespe ein wenig dahinschmelzen lässt, will sie doch selber Detektivin werden.
Nun gilt es, den Detektiv zu fangen. Der Weg dorthin – da wird nun viel geprobt – gehen sie nebeneinander oder hintereinander. „Aber wir können nicht nur in die eine Richtung schauen, wir müssen uns auch ein bisschen in die andere öffnen, da sitzt ja auch Publikum“, bringen gleich mehrere der Schauspieler:innen ein. Also noch einmal.
Jetzt springt Sebastian Herzfeld helfend ein, er ist für die Musik der Inszenierung zuständig. Der Rhythmus, den er für diese Szene unterlegt, hilft dem „Diebs-Quintett“ sehr. Fast filmisch wirkt dieser Gang von einer Bühnenseite zur anderen, wo sie – natürlich – den Detektiv schnappen und ihm alles abnehmen, sogar den Bart. Den hängt sich nur Wespe ins Gesicht.
Da dieser Vorgang von vornherein hektisch angelegt ist, regt auch da der Regisseur ein bisschen Ruhe – und damit Klarheit – an. Wenn Samira Kossebau als Bo dem Victor (Arthur Klemt) das Sakko auszieht, bleiben die Ärmel hängen, also probiert sie sich das Sakko nun gleich verkehrt herum anzuziehen. Wie’s letztlich sein wird? Die Premiere wird’s zeigen!
Die Szene, wenn im alten Theater das Licht ausfällt und eine Verfolgungsjagd – Detektiv vs. Kinder – fast ganz im Dunklen spielt, muss nur einmal wiederholt werden. Schon dürfte sie „sitzen“. Einzig die Taschenlampen bereiten Probleme. „jedes Mal, wenn wir drücken, kommt ein anderes Programm, könnten wir welche haben, die einfach nur stark leuchten, wenn wir den Knopf drücken“, bitten die Schauspieler:innen. Ausstatterin Flavia Schwedler entgegnet, dass „andere die so stark leuchten, noch mehr Programme haben“.
Flavia Schwedler ist der Kopf hinter der genialen so flexiblen Bühne aus den relativ wenigen Stangen, die damit viel Luft und Freiraum lassen. Diese wenigen Stangen eröffnen so viel Bilder. Sie können auf ihren Rollen nicht nur gedreht, sondern auch auseinandergezogen und zusammengeschoben werden. So entstehen parallele „Gassen“ – und schon siehst du Kanäle. Aber auch das alte heruntergekommene Theater, die Villa von Scipios Vater (auch Arthur Klemt) und – ach nein, das sei noch nicht gespoilert…
„Nicht gern“, lasse sie sich fotografieren, „nur, kurz, wenn ich schnell durchgehe“, meint sie zum Reporter. Beantwortet aber gern die Frage, wie sie auf die Idee für dieses Bühnenbild gekommen ist. „Ich bin über einen Flohmarkt gegangen, hab einen Teelichterhalter gesehen, der sich so zusammenschieben und auseinanderziehen lässt. Und mit diesem Vorschlag bin ich in die Besprechung mit Regisseur und Bühnentechnik gekommen – so etwas aus Baugerüststangen zu machen. Ich hab gar nicht damit gerechnet, dass sich das realisieren lässt. Aber alle waren sofort dafür. Dann hab ich noch gedacht, das würde beim Drehen und Ziehen fürchterlich quietschen. Aber die haben das hier toll hingekriegt“, freut sie sich. „Und mit der Goldbemalung schaut das so edel aus!“
Es ist sozusagen eine „Drehbühne“ der anderen Art – die gesamte Kulisse fährt – angetrieben jeweils durch Schauspieler:innen, die verschiedene Drehungen in einer Probenphase ausprobieren.
Der Detektiv will zum Besitzer des Theaters (im Roman Kinos), läutet und trifft auf einen jungen Mann im eleganten in rotem Anzug – zu Beginn hängt noch das Preisschild aus einem Hosenbein. In dem steckt nicht der Dottore, sondern – der Scipio-Darsteller. Nicht in einer Doppelrolle, sondern ein und derselbe. Der „Herr der Diebe“ ist Sohn aus reichem Haus. Welch Überraschung! Die beiden spielen diese Begegnung und Auseinandersetzung mehrfach in Varianten. Mal packen sie einander gegenseitig am Kragen, dann wieder beugen sie sich fast slapstick-artig weit über den jeweils anderen, nachdem sie zuvor verblüfft Blicke tauschen und nach dem dritten zu schreiben beginnen. „Sollen wir uns anschreien, oder sollen wir uns nach vorne drehen und ins Publikum schreiben?“, fragt Hansemann (Scipio) den Regisseur. Der gibt – wie öfter nicht gleich was vor, sondern regt an: „Macht mal, spielt es mal, schauen wir uns an, wie’s funktioniert“.
An diesem Proben-Vormittag, den KiJuKU mitverfolgen darf, kommt Monika Brusenbauch als Souffleurin nur selten zum Einsatz, da kaum wer von den Schauspieler:innen einen Text-Hänger hat. Der Großteil ihrer Arbeit in diesen Stunden: Mit Bleistift, Sätze streichen bzw. da und dort Wörter verändern, die sich aus dem Spiel – und dem Dialog der Spieler:innen mit dem Regisseur ergeben.
Das dreh- und fahrbare Metallstangen-Gerüst wird in einer Szenen auch sozusagen zum Schlagzeug. Wenn die „Bande“ singt „Wir sind die Kinder vom Sternenversteck“ (das alte
Theater heißt Stella – italienisch für Sterne), dann trommeln sie im Takt mit Sticks auf die Metallstangen. „Wir nehmen das Leben in die Hand – Freiheit kommt von Kinderhand!“
Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr… durfte eineinhalb Wochen vor der Premiere bei einer Probe für das Familienstück „Herr der Diebe“ in der Burgtheater-Spielstätte Kasino am Schwarzenbergplatz zuschauen – diese Proben-Reportage ist weiter unten verlinkt. Und in einer Probenpause den Regisseur, Rüdiger Pape interviewen.
KiJuKU: Erstens Danke, dass ich bei einer Probe dabei sein darf und zweitens schon vorab für das Interview. Wurdest du für dieses Stück angefragt, oder hast du es selbst vorgeschlagen?
Rüdiger Pape: Das haben wir zusammen gemacht. Ich wurde angefragt, hier wieder ein Kinderstück zu inszenieren. Dann haben wir viele Stücke gelesen, hin und her gewälzt, welches könnte es sein. Die Brücke zu „Herr der Diebe“ ist im Grunde genommen das Kasino selber. Das Buch war zwar schon mit im Topf der in Frage kommenden Stücke, aber der Ort hier hat ja so etwas von einem venezianischen Palazzo. Die Anmutung der Architektur hat auf jeden Fall eine Assoziation zu Venedig. Irgendwie matcht das, wie man so modern sagt.
KiJuKU: Das heißt, eigentlich war der Ort ausschlaggebend für die Auswahl des Stücks?
Rüdiger Pape: Ja schon, natürlich waren wir uns auch einige, dass die Geschichte großartig ist, Cornelia Funke ist einfach eine super Autorin. 2018 hab ich mal „Tintenherz“ inszeniert am Schauspiel Frankfurt. Sie kann Geschichten schreiben und erfinden, die sowohl Kinder als auch Erwachsene faszinieren. Das finde ich immer ganz wichtig. Und sie kann eine klassische Abenteuergeschichte mit fantastischen Elementen verbinden. Das finde ich fürs Theater spannend.
Aber es war hier schon auch mit einem Risiko verbunden. „Herr der Diebe“ wird normalerweise mit großem Ensemble auf großer Bühne gespielt. Aber hier, das war dafür eine tolle Herausforderung, finde ich.
KiJuKU: Was hat dich an „Herr der Diebe“ fasziniert?
Rüdiger Pape: Neben der spannenden Abenteuergeschichte dieses Element, dass einige der Kinder sich wünschen, erwachsen zu sein, und einem der Erwachsenen gern Kind wäre. Dadurch, dass dies durch das Karussell dann möglich wird, kriegt das durch diesen Dreh fast so einen philosophischen Aspekt.
KiJuKU: Beim Schreiben der eigenen Fassung bist du dann von bisherigen Bühnenversionen ausgegangen oder hast nochmals auf den Roman selbst zurückgegriffen?
Rüdiger Pape: Ich bin nur vom Roman ausgegangen, ich hab eine Bühnenfassung gelesen aber wieder weggelegt. Ich dachte, ich versuche einen eigenen Weg zu gehen. Außerdem hat es natürlich Einfluss auf die Fassung, wie viele Schauspielerinnen und Schauspieler hast du zur Verfügung, hier eben wenige. Wir arbeiten mit Doppelbesetzungen, Arthur spielt sogar vier verschiedene Rollen (Detektiv, Hehler, Scipios Vater und den Conte, der den Diebstahl des hölzernen Löwenflügels beauftragt). Katharina Pichler spielt die böse Tante Esther und Ida, die gute Warmherzige.
KiJuKU: Dann hattest du den Roman vor dir, die Anzahl der Spieler:innen – hast du dann einen großen Bogen skizziert, oder Szene für Szene geschrieben?
Rüdiger Pape: Was die Texte angeht bin ich eng bei Cornelia Funke geblieben. Ich hab vor allem geschaut, welche Szenen können und welche will ich jedenfalls zeigen. Manches haben wir einfach ganz weggelassen – und das vermisse ich auch gar nicht, etwa die Barbarossa-Geschichte hintendran mit Esther.
Das sind einerseits inhaltliche und andererseits auch ganz pragmatische Gründe, warum wir manches weglassen.
KiJuKU: Du hast dann beim Schreiben schon die Szenen im Kopf oder vor deinem geistigen Auge?
Rüdiger Pape: Das ergibt sich dann alles nach und nach. Wobei da auch das Bühnenbild eine große Rolle spielt. Dadurch, dass das so ein offener Raum ist, arbeiten wir ganz anders. Wir schieben ja keine Kulissen raus und rein, sondern bieten so eine Art Imaginationsraum an. Wobei das Publikum ja sieht, wie die Spieler:innen das Gestänge immer wieder in neue Orte verwandeln.
KiJuKU: War das eine gemeinsame Entscheidung, so einen flexiblen Raum zu schaffen?
Rüdiger Pape: Das war schon auch ein Zufall – mehr dazu in der Probenreportage, wo Bühnenbildnerin Flavia Schwedler das KiJuKU erklärt. Es gibt ja den berühmten Spruch, den ich persönlich so mag: „Der Zufall begünstigt diejenigen, die darauf vorbereitet sind.“
KiJuKU: Warst du auch bei der Entscheidung über die Schauspieler:innen dabei?
Rüdiger Pape: Ja, wir haben zwei Studentinnen von der MuK (), wir hatten Casting, die haben vorgesprochen.
KiJuKU: Was sind die wichtigsten Elemente an dieser Geschichte?
Rüdiger Pape: Einmal ist es der Traum, so eine Bande zu haben, die unabhängig von Erwachsenen, fast wie autark ihr eigenes Leben schafft. Fast jede und jeder von uns, die an dem Stück beteiligt sind, hatte irgendwie so eine Bande. Aber hier geht es ja nicht nur um diese romantische Vorstellung, sondern diese Waisenkinder kämpfen ja ums Überleben, das ist harter Existenzkampf.
Dann die Erwachsenenwelt, die feindlich erscheint. Die Tante ist, naja, sagen wir, emotionsarm. Der Victor hat seinen Detektiv-Auftrag, aber der ändert seine Meinung, womit wir eine schöne Drehung einer Person haben – wo sich Einstellungen verändern und wir eine Entwicklung mitverfolgen können; eine Erkenntnis, dass die Kinder es schaffen, so zu leben, aber andererseits fehlt ihnen Schutz und alle sehen sich nach einer Art Familie – auch wenn sie selber gemeinsam wie eine solche funktionieren.
KiJuKU: Die Figur des Scipio kommt zwar aus sehr privilegiertem Haus, ist aber dank der ständigen Abwesenheit des Vaters doch auch so etwas wie ein Sozialwaise. Gleichzeitg lügt er seine neue Familie die ganze Zeit an.
Rüdiger Pape: Das ist eine ganz interessante Figur, finde ich – die Mutter kommt bei uns gar nicht vor und auch im Roman spielt die keine Rolle. Der Vater distanziert sich stark von seinem Sohn, kann mit ihm gar nichts anfangen, lässt jede Wertschätzung fehlen. Dieser Scipio sucht sich sozusagen diese neue Familie, die Bande, die er gründet und in die er als Diebsgut Zeug mitbringt, das er zu Hause mitnimmt. Der lebt dann in zwei Welten, täuscht beide Seiten und baut ein Lügengebäude auf. Dass das dann auffliegt und was das nicht nur mit ihm, sondern der ganzen Gruppe macht – das ist unheimlich spannend. Aber so wie das gebaut ist, können wir ihn verstehen, warum er so handelt. Und natürlich hat er dann den größten Wunsch, erwachsen zu werden, um aus dieser Situation irgendwie rauszukommen.
Eigentlich haben alle Figuren, die hier vorkommen, interessante Aspekte. Mich interessieren auch diese emotionalen Geschichten der einzelnen Figuren. Wespe ist die Schlaue, Riccio ist ein wenig grober gestrickt, Prosper sorgt sich um seinen kleinen Bruder Bo, ist aber selber erst so 13 oder 14 Jahre – also viel zu viel Verantwortung für seine Jugend. Bo ist noch viel zu klein, betrachtet alles sehr naiv. Und Victor (Detektiv) hat zum Beispiel so einen Moment, wo er sich betrachtet und fragt, weiß ich eigentlich noch, wie ich mit fünf Jahren war – das geht dann so über den einfachen Erzählstrang einer spannenden Abenteuergeschichte hinaus. Also sehr vielseitig und spannend.