„karpatenflecken“ von Thomas Perle beim Dramatiker:innen-Festival in Graz erzählt Geschichte in Geschichten über Wurzeln und Wanderungen.
Drei Generationen von Frauen – von der Enkeltochter über die Mutter bis zur Großmutter – erzählen Geschichten und Geschichte. Persönliche Lebenserfahrungen eingebettet und vor dem Hintergrund historischer Einschnitte, neuerdings Zeitenwenden genannt. Von Wanderungsbewegungen, Flucht, Vertreibung und der Sehnsucht nach Verwurzelung.
Passend dazu beginnt „Karpatenflecken“ von dem in Wien lebenden Autor Thomas Perle, der Stücktext war vor drei Jahren mit dem renommierten Retzhofer Dramapreis ausgezeichnet worden. Es sollte seine erste Aufführung im Vestibül des Wiener Burgtheaters haben. Corona und Renovierungen verschoben dies. Ende des Vorjahres hat das Deutsche Theater Berlin das Stück aus Fragmenten, Splittern einer Lebensgeschichte, die historische Entwicklungen mit abrollen lässt, uraufgeführt. Nun gastierte es damit im Grazer Schauspielhaus im Rahmen des Dramatiker:innen-Festivals in der steirischen Landeshauptstadt (mit einer kurzfristig nötigen Umbesetzung).
Ach ja, der vorige Absatz fing damit an, dass er den Beginn des Stückes beschreiben wollte. Nach den Fakten-Einschüben also die Fortsetzung dessen: Das knapp mehr als einstündige Bühnengeschehen beginnt mit – einem Baum. Ihm leiht Judith Hofmann, die später vor allem die mittlere der drei Frauen, aber auch einen (Klischee-)Rumänen spielt, ihre Stimme. Die im stilisierten Gebirge – aus einem riesigen weißen Tuch über darunter später auftauchende Unmengen von Schachteln und Kisten (Bühne & Kostüme: Sigi Colpe) – fest Verwurzelte spricht mit dem Berg, dargestellt durch die Projektion des Gesichtes von Katrin Klein (Video: David Benjamin Schulz). Sie, die vor allem die Großmutter spielt, ist an diesem Abend verhindert und wird durch die sehr kurzfristig eingesprungene Isabel Schosnig ersetzt. Was kein leichtes Unterfangen ist, spricht die „Alte“ doch einen komplizierten, alten „teitschen“ Dialekt, Wischaudeutsch.
Diese Sprache hat sich in den Waldkarpaten im Norden Rumäniens gehalten. Der Autor des Stücks, in das er so manches aus seinen Prosa-Texten „wir gingen weil alle gingen“ (2018, edition exil, siehe Info-Box) eingebaut hat, ist dort auf die Welt gekommen. Im Stück nennt er den Fuß des Berges „Wurzelort“. Schon in seiner frühesten Kindheit „ging“ die Familie, deren Vorvorvorfahren wie viele andere um 1770 aus Oberösterreich, der Steiermark und anderen Gegenden hierher in den Osten zum Arbeiten gezogen waren, in den Westen. Konkret nach Deutschland. Wo Thomas Perle mit den am Wurzelort verwendeten drei Sprachen – Rumänisch, Ungarisch und eben Wischaudeutsch – aufgewachsen ist, sie beherrscht. „wie mehr språchn weißt, ßo mehr pist a mensch“, zitiert der Autor seine Urgroßmutter im Programmheft zu „Karpatenflecken“.
Die drei Sprachen kommen im Stück hin und wieder vor, am meisten dieser alte „Insel“-Dialekt, den die kurzfristig eingesprungen Schauspielerin zu beherrschen schient sowie Ungarisch und Rumänisch durch ihre „Tochter“ und „Enkelin“, Judith Hofmann und Julia Windischbauer. Das Trio spielt sehr einfühlsam, baut mühelos während des Spiels den Berg ab und zu einer dicken Mauer um.
Stück und Schauspielerinnen switchen durch 300 Jahre. Von der Einwanderung, gekleidet in alt wirkende Trachten über die Besetzung auch dieser Gegend durch die deutschen Faschisten bis hin in die Ära des sogenannten realen Sozialismus. Samt Jubel über den Tod des Conducător (Führer) Nicolae Ceaușescu und der im Volk noch viel verhassteren „liebenden Mutter der Nation“, der einflussreichen „First Lady“ Elena. Da war der Autor und seine Familie schon in Deutschland, besuchte aber immer wieder die zurückbleibenden Verwandten, im Stück konzentriert in einer Tante, ebenfalls von Judith Hofmann gespielt, die auch in die teils schon genannten Rollen von Mutter, Wald, Kolonistin und dem Rumänen geschlüpft war.
Und obwohl so konkret rund um eine Familiengeschichte gebaut, erzählt „karpatenflecken“ so nebenbei allgemeingültige Gefühle rund um (erzwungene) Wanderungsbewegungen, Heimaten und das Wunderbare von Sprachenvielfalt.
Compliance-Hinweis: KiJuKU wurde zur Berichterstattung über das Dramatiker:innen-Festival nach Graz eingeladen.
von Thomas Perle
Gastspiel des Deutschen Theater Berlin
Regie: András Dömötör
Es spielen: Judith Hofmann, Isabel Schosnig (anstelle von Katrin Klein eingesprungen), Julia Windischbauer
Bühne & Kostüme: Sigi Colpe
Musik: Tamás Matkó
Video: David Benjamin Schulz
Dramaturgie: Juliane Koepp
Technische Einrichtung: Mathias Jahnke-Schöpe
Ton: Leo Stoffels
Requisite: Lasha Rostobaia
Maske: Andreas Müller, Antonia Peix
Garderobe: Sabine Reinfelt
Das Buch
Text: Thomas Perle
wir gingen, weil alle gingen
130 Seiten
edition exil
12 €
editionexil -> wir gingen weil alle gingen