Vielschichtige Geschichte(n) schweben auf verschiedenen Ebenen durch Raum und Zeit – verkörpert durch drei Schauspielerinnen, die Persönliches einbrachten und ins Allgemeine gehoben werden.
Zu atmosphärischen Gedichtzeilen, die – eingesprochen aus dem Off – über der Szenerie durch den Raum zu schweben scheinen, beginnen unten zu ebener Erd` Theaternebel-Wolken zu wabbern, erfüllen im Verlauf der 1 ½ Stunden immer wieder das Geschehen im Drei-Eck zwischen einem stilisierten Baum, einer Art Felsbrocken und einer Bushaltestelle. Alles in Weiß gehalten – wie unbeschriebene Blätter. Auf, vor, in und zwischen denen sich die Geschichte dreier Frauen „geschrieben“, pardon gespielt und erzählt wird. Ach, weiß ist auch noch ein Großteil des Bodens – aus zusammensteckbaren Quadraten, die über weite Strecken an eine Art eisige Struktur, später – umgedreht – eine glatte Fläche ergeben in „Im Herzen der Krähen“ von Kaśka Bryla im Werk X am Wiener Petersplatz.
… stellen sich der Reihe nach drei Frauen vor: Zunächst Sonja, die auf den Bus wartet, der nicht und nicht daherkommt. Julia Amme wirkt wie aus einer anderen Welt, entkleidet reibt sie sich mit realen Eisplatten und -Stücken ein.
Laila Nielsen als Lille würde gerne fliegen können. Irgendwie auch, weil sie das Mensch-Sein satt hat, sich sozusagen mit der Natur vereinen will, erklettert sie den angesprochenen Baum – hinauf zu den Krähen, die wie vielleicht auch nicht anders zu erwarten war, davonfliegen. Aber eine bleibt. Mit der freundet sie sich an, gibt ihr sogar einen Namen: Kassandra. Nach der „blinden Seherin“ aus der griechischen Mythologie, die die Zukunft vorhersagen konnte, der aber niemand glaubte.
Diese aber wird von einem Pfeil aus einer Armbrust getroffen. Abgeschossen von der dritten – noch lange nicht im Bunde: Esra mit Figurennamen, gespielt von Zeynep Alan. Den Vogel zu treffen wollte sie nie und nimmer, beteuert sie vielfach, es tue ihr leid. Sie wollte schlicht und ergreifend – und das in gedichthaften Worten – nur das Geräusch des fliegenden Pfeils in der Luft hören. Sätze, die sie mehrfach wiederholt. Leider ist es in diesen – große Stille erfordernden – Momenten nie ruhig genug, stören technische Nebengeräusche.
Jedenfalls konstatiert Sonja nach dem Vogeltod: „Die Welt ist jetzt eine andere!“ Und sie wandelt sich für das Trio – aus den drei Einzelnen wird eine Gemeinschaft. Miteinander buddeln sie – nur erzählt – ein tiefes Loch, begraben den Vogel. Und sehen sich obendrein miteinander der Bedrohung durch einen Wolf gegenüber. Der als Projektion – wie übrigens auch die Krähe vor ihrem Ende, die auf einem rotierenden Kreisel, der Vierbeiner auf der Rückwand – auftaucht. In dem Fall herangezoomt das Maul aufreißend, sozusagen gar das Publikum mitverschluckt. Aber nein, sie können sich retten – und nicht nur das. Schließlich trägt Sonja einen Wolfspelz-besetzten Mantel (Bühne und Kostüm: Elisabeth Schiller-Witzmann).
Nach den ersten gemeinsamen, teils innigen, Erlebnissen, versuchen Esra, Lille und Sonja ihre Wurzeln zu erzählen, nachdem sie ins Grübeln gekommen sind, wie Zukunft mit Vergangenheit zusammenhängt – und damit auch mit ihren Herkünften, die sie als Rucksack mittragen – nicht zuletzt und mitunter sogar vor allem über die Betrachtung und Schubladisierung der anderen zwecks „Hintergründen“.
Autorin Kaśka Bryla hat mit den Mitgliedern des Ensembles – nicht nur dem Schauspieltrio – ausführliche persönliche Interviews geführt, deren Ergebnisse sie in eine erste Fassung eines Teils des Stückes fließen hat lassen. Diesen Text hat sie dem Ensemble wieder vorgelegt, Meinungen, Ergänzungen usw. eingeholt und dann den Stücktext fertig geschrieben, den Alexander Bauer und Chris Herzog inszenierten (Dramaturgie: Angela Heide, Outside-Eye: Aïsha Konaté).
Das Stück, das sich selbst „eine Überschreibung der Kassandra-Figur“ nennt, operiert nicht nur mit Schauspiel und eingespielten gedicht-ähnlichen sozusagen Meta-Texten, sondern auch mit Musik – bekannte Songs werden im Playback performt. Und dem Gedankenspiel, gäbe es eine bessere Zukunft, wenn die Vergangenheit umgeschrieben werden würde. Und inwiefern wäre es nicht nur eine gelogene neu geschriebene Vergangenheit, sondern wie viel davon ist tatsächlich eine – bislang nicht oder kaum erzählte – wirkliche Vergangenheit. Ist nicht Geschichtsschreibung immer eine der Herr-schenden? Und gilt es nicht auch, die verschüttete echte Vergangenheit freizulegen. Aber wo ist die Grenze zwischen der wahren und der erwünschten Geschichtsschreibung?
Auch wenn das Reinkommen ins Stück nicht gleich von den ersten Momenten an leicht ist – angesichts der angespielten verschiedenen Ebenen – nach kurzer Zeit kann leicht in die schwere und doch leichtfüßige – aber mit Tiefgang – gespielte Geschichte – eingetaucht werden – eine Produktion von Kunst und Lügen und Peira in Kooperation mit WERK X-Petersplatz sowie Theater im Ballsaal.
von Kaśka Bryla
Eine Produktion von Kunst und Lügen und Peira in Kooperation mit WERK X-Petersplatz sowie Theater im Ballsaal
Inszenierung: Alexander Bauer (Peira), Chris Herzog (Peira)
Es spielen:
Esra: Zeynep Alan
Sonja Moog: Julia Amme
Lille Henriksen: Laila Nielsen
Bühne und Kostüm: Elisabeth Schiller-Witzmann
Dramaturgie: Angela Heide
Outside-Eye (dramaturgische Beratung): Aïsha Konaté
Produktionsleitung: Julia Pacher und Peira
Bis 27. April 2023
Werk X-Petersplatz: 1010, Petersplatz 1
Telefon: 01 962 61 10
Werk X-Petersplatz – im Herzen der Krähen
Zu einem Trailer geht es hier
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