„Die Redaktion“: Volkstheater-Produktion in den Bezirken: Standing Ovations für die Bühnenversion einer wahren Aufdecker-Geschichte (OMV) des Magazins Dossier.
Was sind schon erfundene Verbrechen, Machenschaften, Korruptionen gegen „True-Crime-Stories“. Die Wirklichkeit ist mitunter ärger – und auf so mancher Ebene doch banaler – als fiktionale Romane. Manches kannst du nicht erfinden. Solche Stories boomen – als Podcasts, gedruckt und mitunter auch auf Bühnen. Nachdem das Volkstheater mit „Ich bin alles – als mir die Stadt gehörte“ über das Leben einer einstigen Wiener Unterweltkönigin durch die Bezirke tourte, stehen zwei Krimis im politiknahen Bereich auf dem Spielplan. In der „Roten Bar“ gibt es u.a. Abende mit dem Macher des Ibiza-Videos, Julian Hessenthalter und seit Freitagabend (28. April 2023) tourt „Die Redaktion“ in Veranstaltungszentren der Volkshochschulen usw. durch Wiens Bezirke.
Das – prinzipiell inseratenfreie, um ja nicht korruptionsanfällig werden zu können – investigative Magazin Dossier ist „Die Reaktion“. Vier Schauspieler:innen schlüpfen in die Rollen von vier zentralen Redakteur:innen und lassen eine wichtige Recherche, die durch eine Achterbahn von Gefühlen führt(e), in knapp zweieinhalb Stunden (eine Pause) lebendig werden. Was vielleicht aufs Erste fast unspielbar wirken könnte, wird tatsächlich zu einem abwechslungsreichen Bühnenerlebnis – dank Calle Fuhr, der die umfangreichen, komplizierten Recherche-Ergebnisse und -prozesse in eine Bühnenfassung übersetzte und Regie führte. Wenig Utensilien – alte Overhead-Projektoren, Projektionswände und höchstens das eine oder andere Verkleidungsteil, vor allem aber glaubwürdiges Schauspiel UND die fast unglaublichen Zu- und Umstände diverser Deals sorgen für die Spannung.
Zwar wird die eine oder andere Szene fiktiv gespielt oder als voraufgezeichnetes Video (zwei zusätzliche Schauspieler) gezeigt, aber die Basis, vor allem die Fakten und Zahlen sind alle echt – und doch einfach und nachvollziehbar aufgeschlüsselt in Szenen eingebaut.
„Die Redaktion“ konzentriert sich auf einen der Dossier-Aufdeckungen, den des „Ölprinzen“, den vormaligen Chef des Öl- und Kunststoff-Konzerns OMV, Rainer Seele. Zweierlei Maß innerhalb des Konzerns, mehr als seltsames Sponsoring, merk-würdige Deals, Klagsdrohungen, die Dossier vernichten sollten, und nicht zuletzt „Maulwurfs“-Suche, illegale Überwachungsaktionen von Journalist:innen und Aktivist:innen im Interesse der OMV-Spitze.
Murali Perumal in der Rolle des damals (Anfang 2020) erst seit ein paar Monaten neuen Dossier-Journalisten Ashwien Sankholkar – im Stück tragen die Protagonist:innen nur ihre, teils abgekürzten, Vornamen – bringt eine Geschichte in die Redaktionssitzung ein, die Sprengkraft haben könnte: OMV-Boss Rainer Seele, federführend für die Ausweitung des Gasliefervertrags mit Russland bis 2040, hat intern ein Sparpaket auch für die Führungsriege verordnet. Aber nicht ganz für alle. Während der Fuhrpark geschlossen wird, bleiben Seele selbst Dienstwagen, Chauffeur und – entgegen den konzerneigenen Regeln – Flüge mit Privatjets – sogar von Wien nach Klagenfurt.
Das, so Ashwiens Kalkül, könnte aufgrund der in der zweiten Führungsebene entstehenden Unzufriedenheiten, vielleicht die eine oder den anderen zu weiteren internen Infos veranlassen… Und so nutzte er seine Kontakte, erfährt so manches, unter anderem, dass die OMV mit 25 Millionen Euro Wladimir Putins Lieblingsklub Zenit Petersburg sponsert – und zwar das Nachwuchsteam, aber dafür gar keine Werbung will, weder auf Dressen noch sonst irgendwo.
Außerdem kriegt Ashwien heraus, dass es rund um den teuersten Kauf der österreichischen Wirtschaftsgeschichte – OMV erwirbt den Kunststoffkonzern Borealis – Ungereimtheiten gibt. Die übliche Nachverhandlungsklausel (MAC) in Verträgen wird gestrichen – aber rund um den Verkaufstag die Gewinnerwartung des neuen Eigentums stark verringert…
Mehr Details dazu sollen hier nicht verraten werden – auch wenn sie natürlich schon vor dem Besuch des Stücks via Dossier – und längst auch in anderen Medien, die nach laaaaangem Zögern, immerhin regnete es bei den anderen Inserate – gelesen werden können.
Natürlich ging das – in der Realität und damit auch im Stück – nicht alles glatt. Wie schon angesprochen, die OMV stellte dem Magazin eine Klage zu – über 94.000 Euro; Begründung: Großer Schaden, weil viel Geld für Werbung ausgegeben werden musste, um das Image wieder aufzupolieren. Konkreter Klags-Anlass: Die oben angesprochene Nachverhandlungsklausel, die geschäftsüblich ist, wurde im Artikel „fix“ bezeichnet – und das war zu viel.
Fast gleichzeitig muss Chefredakteur Flo(rian Skrabal) feststellen, das Dossier-Budget reicht nur noch für neun Monate, außerdem scheint er ein bisschen skeptisch. Bei allen anderen Recherchen der Redaktionsmitglieder ist er viel stärker eingebunden, hier weiß er nicht alle Details.
Um überleben zu können, braucht es viiiiel mehr zahlende Mitglieder – die die umfangreichen Hefte bekommen. Die Klagsdrohung, die in Wahrheit eine gegen die Pressefreiheit ist, führt zu einem unterwarteten Zustrom neuer Mitglieder. Die sehr wandlungsfähige Gerti Drassl schlüpft in Flos Rolle ebenso wie die einer anonymen OMV-Mitarbeiterin und vor allem auch einer anonymen Informantin – im Café ums Eck, je nach Bühnenort in den verschiedenen Bezirken 😉
Die Anwältin – dargestellt von Magdalena Simmel, die auch die Dossier-Journalistin Sahel Zarinfard spielt – versprüht keinen Optimismus was die Klage betrifft, wartete aber mit einer kämpferischen Gegenstrategie auf, die sie mit der japanischen Verteidigungskunst Aikidō (die Kraft des Angriffs umleiten) charakterisiert: Einen weiteren Artikel veröffentlichen, der im Wesentlichen nur aus schon öffentlich zugänglichen Zitaten besteht. Und siehe da, die OMV fällt auf den „Trick“ herein, klagt wieder.
Noch eine halbe Stunde vor der Premiere – in der Brigittenauer Raffaelgasse – kommt ein Update im Newsletter, das gegen Ende des Stücks auch für das Publikum im vollbesetzten Saal eingespielt wird: „Vom Theater zur Maulwurfjagd“ enthüllt, dass sich aus bis dahin kaum zur Kenntnis genommenen Aussagen im „ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“ die Bespitzelungen u.a. von Journalist:innen für die OMV-Führung bestätigt haben.
Gewürzt ist der Abend hin und wieder auch mit witzigen Szenen: Von der ersten Zoom-Konferenz – „Hört ihr mich? Ich kann euch nicht hören!“, beginnt doch die Geschichte knapp vor dem ersten Lockdown Mitte März 2020 – über eine fiktive Geheimsitzung bei der OMV, deren Folgen aber echt sind/waren bis hin zu einem schrägen Dialog während einer Taxifahrt. Diese ist fast 1:1 dem Fernseh-Zweiteiler „Der Aufschneider“ u.a. mit Josef Hader entliehen. Gag am Rande: Murali Perumal, der den Journalisten Ashwien Sankholkar auf der Bühne spielt, gab dort den Taxifahrer. Der Bonner, der erst in den beiden letzten Schuljahren seine Lust am und Liebe zum Theater entdeckte, nach einem Dutzend Ablehnung an Schauspielschulen in Wien am Max-Reinhardt-Seminar seine Ausbildung machte und in München lebt und spielt, wurde für diese Volkstheater-Produktion engagiert.
Für humorvolle Auftritte sorgt nicht zuletzt Christoph Schüchner – weniger als Georg Eckelsberger (stv. Dossier-Chefredakteur), sondern als Rainer Seele (auch im Video) und vor allem als Wolfgang Berndt, seines Zeichens Aufsichtsratsvorsitzender der OMV, und damit nicht zuletzt Vertreter der Steuerzahler:innen in Österreich – der Staat ist fast zu einem Drittel an der OMV beteiligt – und zwar aller, die in Österreich Steuern zahlen, unabhängig von ihrer Staatsbürger:innenschaft. Als eine Art Mr. Wichtig, der sich selbst noch für witzig hält, gibt er unfreiwillig so manches preis, das vorher geheim gehalten werden sollte.
Nach dem Jubel für die Schauspieler:innen – und der Verbeugung auch des Teams hinter den „Kulissen“, sorgte vor allem das Erscheinen der vier Originale – der Dossier-Redakteur:innen Florian Skrabal, Sahel Zarinfard, Ashwien Sankholkar, Georg Eckelsberger – auf der Bühne zu Standing Ovations des gesamten Publikums – für den gelungenen Theaterabend sowie die medien- und demokratiepolitisch wichtige Aufdecker-Arbeit.
Ein weiteres Update schaffte es (noch) nicht auf die Bühne: Am Abend der Premiere sagte die Energie- und Umweltministerin Leonore Gewessler im ZiB2-Interview, dass sie die Gassparte der OMV verstaatlichen will, um die Versorgung unabhängiger von russischen Gaslieferungen zu machen.
Volkstheater in Kooperation mit Dossier
Ab 16 Jahren; ca. 2 ½ Stunden (eine Pause)
von Calle Fuhr
Es spielen – die echten Redaktionsmitglieder als (teils abgekürzte) Vornamen als Rollennamen
Flo(rian Skrabal): Gerti Drassl
Ashwien (Sankholkar): Murali Perumal
Georg (Eckelsberger): Christoph Schüchner
Sahel (Zarinfard): Magdalena Simmel
Sowie die vier genannten Schauspieler:innen auch in den Rollen von
Anonyme Quelle/ Isabell Hametner/ OMV-Mitarbeiterin/ Taxifahrerin/ Ashwien #2: Gerti Drassl
Wolfgang Berndt/ Rainer Seele/ OMV-Mitarbeiter/ Kellner/ Ashwine #3: Christoph Schüchner
DOSSIER-Anwältin/ Robert Eichler/ Ashwien #4: Magdalena Simmel
OMV-Vorstandsmitglied im Video: Günther Wiederschwinger
OMV-Pressesprecher am Telefon: Quirin Gerstenecker
Regie und Bühne: Calle Fuhr
Kostüm: Friederike Wörner
Video Art: Lisa Rodlauer, Marvin Kanas (OMV-Büroszene)
Dramaturgie: Matthias Seier
Technische Tourneeleitung und Ton: Christof Seidl
Regie-Assistenz, Abendspielleitung, Soufflage: Birgit Allesch
Produktionsleitung, Abendspielleitung: Sophia Fischer, Felix Scharr
Bühneneinrichtung: Studio Kudlich
Regie-Hospitanz: Merle Ott
Kostüm-Hospitanz: Amelia Riedel
Bis 6. Juni 2023
Volkstheater in den Bezirken
Theater & Schule
Für Klassen gibt es Schulstunden-Gespräche mit Regisseur Calle Fuhr und Journalist:innen von Dossier. Theaterpädagog:innen bieten mehrstündige Intensiv-Workshops zur Vor-/Nachbereitung des Aufführungsbesuchs an. Kostenfrei und direkt in der Schule.
Anfragen an bezirkeklub@volkstheater.at
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen