… nur weil Nazis das für Jüd*innen verboten haben. Ruth Klügers Autobiographie „weiter leben. Eine Jugend“ als berührendes Erzähltheater in der Wiener Ruprechtskirche.
Zwei Frauen vor dem steinernen Altar in der Ruprechtskirche, der ältesten Wiens, sind eine Person: Ruth Klüger. Sie spielen die vor knapp mehr als einem Jahr verstorbene Autorin – in ihrer Autobiographie „weiter leben. Eine Jugend“. Manchmal werden sie eins, in anderen Passagen sind sie sozusagen das Kind einer- und die erwachsene Frau andererseits, die ihre Kindheit reflektiert erzählt, mitunter aber ganz tief in die Gefühle des Kindes eintaucht, das sie ja einmal war. Dann wiederum sind die beiden Schauspielerinnen sozusagen zwei Seelen in einer Brust, hin- und hergerissen.
Unter die Haut gehen die ausgewählten – und nur durch die Bühnenfassung chronologisch sortierten – leibhaftigen Erfahrungen der Autorin durch die empathische, aber nie pathetische Erzählung von Alice Mortsch und Franziska King. Die Bühnenfassung – ausschließlich aus dem Originaltext – stammt von Hubertus Zorell und Pete Belcher Regie: Nika Sommeregger, die das Stücke bereits 2001 zum ersten Mal inszenierte – damals in dietheater Künstlerhaus, ein zweites Mal wurde dieselbe Inszenierung im Dschungel Wien gespielt. In beiden Theaterhäusern war Ruth Klüger selbst bei mindestens einer Aufführung dabei. Sie hatte der Regisseurin in einer kurzen eMail freie Hand bei der Inszenierung gegeben.
Weil die Autorin so auf Gedichte stand, selber viele schrieb, aber auch liebend gern und leicht Gereimtes auswendig lernte, packte die Regisseurin das rund einstündige Erzähltheater wie mit einer Klammer zwischen zwei Gedichte – ein anhimmelndes für den letzten austrofaschistischen Diktator Dollfuß und eines von Ruth Klüger selbst, das, inspiriert vom Spaziergang am Meeresstrand friedliche Stimmung ausstrahlt: „Wind weht vom Stillen Ozean…“
Krasse Kindheitserlebnisse – noch lange bevor sie als junge Jugendliche in Konzentrationslager gekommen ist – machen leicht und deutlich nachvollziehbar, was es geheißen haben muss. Beispielsweise nicht einmal ins Kino zu dürfen, nur weil sie Jüdin war. Und doch schlich sie sich einmal heimlich ins Kino, um Walt Disneys „Schneewittchen“ zu sehen. Sie bekam so wenig wie nie vor- und nachher von einem Film mit, weil die Tochter des Bäckers sie erspähte, eine glühende Nazi-Anhängerin. Und die drohte ihr mit einer Anzeige.
„Kommerziellen Zynismus“ nannte Ruth Klüger die Tatsache, dass Jüd*innen den sie brandmarkenden gelben, sechszackigen Judenstern auch noch selber kaufen mussten.
Zurückkommend auf die eingangs erwähnte Zerrissenheit, die die beiden Spielerinnen mitunter darstellten. Eine solche markante Stelle ist Ruth Klügers Gefühl rund um die Ankunft im ersten Konzentrationslager Theresienstadt. Denn neben dem natürlichen Hass darauf bemerkte sie auch positive Gefühle – eines sozialeren Lebens für sie als davor in Wien, wo sie vereinzelt, weil überall ausgegrenzt war „dass ich in Theresienstadt letzten Endes ein besseres Milieu für ein Kind vorfand als im Wien der letzten Zeit“.
Bei der vorigen Inszenierung im Dschungel Wien sprach Klüger selbst über ein weiteres prägendes widersprüchliches Gefühl. Tief in ihr drin verankert hatte sie die Überzeugung, nicht lügen zu dürfen. Und letztlich verdankte sie ihr Überleben einer Lüge, die sie gar nicht tätigen hätte wollen, zu der sie aber ihre Mutter, noch viel mehr aber eine Art Sekretärin des Selektionierers im Vernichtungslager Auschwitz drängte. Gesucht wurden Frauen für ein Arbeitslager – ab 15. Sie war 12. „Sag, du bist 15!“ Zögerlich, zaghaft, weil ja nicht wahr, nannte sie die höhere Zahl…
Viele Schulklassen sitzen bei den nunmehrigen Aufführungen in den Kirchenbänken. „Ich finde, diese Geschichte muss gerade heute wieder erzählt werden, wo Antisemitismus zunimmt“, meint die Regisseurin einleitend zum Publikumsgespräch. Aber auch, weil so unerträglich mit Flüchtenden umgegangen wird. Ruth Klüger hätte übrigens mit einem Kindertransport schon früh dem faschistischen Deutschen Reich entkommen können. Doch ihre Mutter hatte gemeint, Ein Kind trenne man nicht von der Mutter. Die Autorin erinnert sich in ihrem Buch, wie enttäuscht sie darüber gewesen sei. Ohne je mit der Mutter darüber reden zu können.
von Ruth Klüger
teater ISKRA gemeinsam mit Dschungel Wien
Ab 16 Jahren; 70 Minuten
Bühnenfassung: Hubertus Zorell, Pete Belcher
Inszenierung: Nika Sommeregger
Es spielen: Franziska King, Alice Mortsch
Kostüme: Verena Vondrak-Zorell, Renate Wichtl
Regieassistenz: Tom Gruber
Bis 29. Juni 2021
Externer Veranstaltungsort:
Ruprechtskirche: 1010, Ruprechtsplatz 1
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