„Identitti“, der ironische Roman zur Identitäts-Diskussion und zu Rassismus, von Mithu Sanyal in einer kompakten, spielfreudigen Bühnenversion im Linzer Theater Phönix.
Eine Bühnenversion des Kult-gewordenen rund 350-Seiten (netto) Romans der deutschen Schriftstellerin, Journalistin und Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal auf die Bühne zu bringen? Ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Dem Jugendtheater Phönix ist es mit „Identitti“ gelungen. Das komplexe Thema Identität, die heute mehr noch als über Geschlecht via– mitunter Generationen zurückreichender – ethnischer Herkunft in Europa festgeschrieben zu sein scheint und das mit dem sehr kräftigen Schuss Humor und Ironie der Autorin breitet sich die rund eineinhalb Stunden auf der glitzer-glänzenden Bühnenlandschaft, die damit auch viele Spiegelungen ermöglicht (Anneliese Neudecker) an der Wiener Straße in Linz (Oberösterreich) aus.
Zunächst kürzest zusammengefasst der Plot des Stücks, das sich vor allem aus dem ersten Roman-Teil (Fake Blues) speist: „Identitti“ ist der Social-Media-Name der Studentin Nivedita, die vor allem über Sex, Brüste (daher der Name) und Race postet und bloggt. Sie studiert bei DER Professorin für postkoloniale Studien, Saraswati. Die vergöttert sie richtig. Nicht nur wegen ihrer fundierten Studien, Forschungen, Thesen und Bücher, sondern auch weil sie einen von ihnen ist, eine Nicht-Weiße. Fast gleichzeitig während Nivedita ein Radiointerview zu ihrem Blog und den Themen darauf gibt, wird enthüllt: Saraswati ist eine natur-weiße Deutsche – nur mit einem adoptierten „Bruder“ aus Indien.
Betrug. Vdertrauensbruch. Eine Welt bricht zusammen. Waaaaarum? Jetzt klauen Weiße auch noch PoC (Person of Color)-Identitäten, um sich renommierte Uni-Posten zu schnappen. Und reingefallen.
Aber: Ist nicht trotzdem vieles richtig und wahr, was sie und ihre Mitstudent:innen bei Saraswati, die eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt/hieß, gelernt haben? Wenn es gender-fluid gibt, kann es dann nicht auch race-passing geben? Und ist nicht gerade „Rasse“ bei Menschen eine künstliche Konstruktion, eine Erfindung, um die Herrschaft der „Weißen“ zu „begründen“ ebenso wie Sklavenhandel – obwohl alle Menschen gleich sind und es weder rein Weiße noch rein Schwarze gibt?
So ernst und tiefgehend diese und viele weitere Fragen sind, so leichtfüßig – und doch mit Tiefgang – und von Humor durchzogen hat Mithu Sanyal ihren Roman, der zum „Verschlingen“ einlädt, geschrieben. Und diesen Tenor trifft auch die Inszenierung im Phönix (Martina Gredler), in der Gulshan Bano Sheikh die zentrale Figur, die Studentin Nivedita spielt. Die manchmal aus der Rolle rausschlüpft und sich direkt ans Publikum wendet.
Eine weitere zentrale, sehr präsente Rolle spielt Kerstin Jost als die vielarmige Göttin Kali, mit der Nivedita sehr oft kommuniziert, und die für sie (fast) noch wichtiger ist als die Professorin. Apropos mehrarmig – bald nach Beginn und einmal gegen Ende tritt das ganze kleine Ensemble in einer Reihe auf, jede:r bewegt die Arme als wären sie gemeinsam eine (weitere) Kali. Eine für Nivedita ganz wichtige Vertraute ist ihr Cousine Priti, in deren rolle Cecilia Kukua schlüpft, die noch zusätzlich die Radiointerviewerin Verena spielt. (Die sich die Autorin – wie sie im Nachwort schreibt – von einer echten Radiomoderatorin namens Verena ausgeliehen hat).
Das Thema sozusagen in einer Schauspielerin materialisiert spielt Ivana Nikolić sowohl die Scharze Mitstudentin Oluchi als auch die Weiße Kommilitonin Lotte. Die erst Angehimmelte und dann zur Buhfrau gewordene Professorin wird – anfangs sozusagen hoch über den Bergen thronende – von Gina Christof verkörpert.
Ihr „Bruder“ – das kommt im Roman viel deutlicher heraus – wurde von den bildungsbürgerlichen Eltern aus Indien adoptiert, weil sie lange Zeit dachten, keine „eigenen“ Kinder in die Welt setzen zu können. Er stammt auch nicht wie kolportiert aus einem Waisenhaus, dem sie damit eine bessere Zukunft ermöglichen, sondern aus einer Schar geraubter Babys. Und er wird, kaum haben die Eltern dann doch mit Sarah Vera ein Kind bekommen, diskriminiert, wird zum Außenseiter… Diesen Raji, den die Eltern Konstantin und die Schwester Stan nennt, spielt Mirkan Öncel.
Raji/Stan schildert gegen Ende auch die wahre tragische Geschichte des rassistischen Terroranschlags von Hanau (2020) und zählt – wie die Autorin im Original – die Namen der neun Ermordeten, die der Täter wegen offensichtlichen Migrationshintergrundes ausgewählt hatte, auf. Womit auch die Leichtigkeit, die Diskursivität von race-passing dahin ist: Die existenzielle Frage, wer PoC ist: „wer dazugehört und wer nicht, wer unterdrückt wird und wer nicht in dieser Gesellschaft, ist damit beantwortet. WIR sind diejenigen, die zum Abschuss freigegeben sind.
Davon dürfen wir uns nie wieder ablenken lassen. Dagegen müssen wir uns wehren“, heißt es im (Roman-)Text dazu.
Ach ja, keinesfalls vergessen werden soll Marius Zernatto, der Simon, Niveditas On-Off-Freund spielt. In der Theaterversion „kämpft“ er immer wieder damit, endlich einen Auftritt haben zu dürfen und verbringt einen Teil der Vorstellung in den Publikumsreihen – korrespondierend zu Sarawastis erstem Vorlesungs-Auftritt, bei dem sie alle Weißen aus dem Hörsaal schickt.
Mithu Sanyals Buch umfasst auf den 350 Netto-Seiten – gut zehn Seiten mit Anmerkungen, Fußnoten und Quellenangaben – natürlich nicht nur mehr zur Grundgeschichte – vor allem den Konflikt Rajis mit Sarah Vera. Und ihre Beweggründe, gönnerhaft in eine Diskriminierungsrolle zu schlüpfen – mit der sie allerdings erst ihre Karriere befördert.
Die fiktive Geschichte hat reale Vorbilder hat wie nicht zuletzt Rachel Dolezal oder Icnotl Gonzalez. Die beiden – die eine Weiße, die in den USA als Schwarze Aktivistin und ebenfalls Uni-Lehrerin auftrat, die andere Mexikanerin, die sich eine indigene Identität zulegte, wurden vor einem halben Jahr in der Performance „Justizia! Identity Cases“ im brut wien als Gerichts-Show auf die Bühne gebracht.
Die Autorin packt diese, ihre fiktive Geschichte, für die sie fast drei Dutzend Menschen (die sie im Nachwort nennt) bat, Tweets, Insta- und Facebook-Postings zu verfassen, in sehr viel realen, teils wenig bekannten, fundierten Inhalt. Etwa das kolonialistische Verhalten Deutschlands gegenüber Osteuropa oder die praktische Auslöschung slawischen Glaubens in Polen durch die katholische Kirche…
von Mithu Sanyal
1 ½ Stunden (keine Pause)
Inszenierung: Martina Gredler
Es spielen
Nivedita: Gulshan Bano Sheikh
Kali: Kerstin Jost
Saraswati (Sarah Vera): Gina Christof
Priti / Verena: Cecilia Kukua
Lotte / Oluchi: Ivana Nikolić
Raji (Konstantin/Stan): Mirkan Öncel
Simon: Marius Zernatto
Tweets: Ensemble
Bühne: Anneliese Neudecker
Kostüme: Lejla Ganić
Lichtgestaltung: Anselm Fischer
Dramaturgie: Sigrid Blauensteiner
choreografische Mitarbeit: Daniela Mühlbauer
Bis 20. April 2023
Theater Phönix: 4020 Linz, Wiener Straße 25
Telefon: 043 732 / 666 500
tickets@theater-phoenix.at
Text: Mithu Sanyal
Identitti
360 Seiten
Hanser Verlag
Gebundenes Buch: 22,90 €; englische Ausgabe: 26,99 €
Taschenbuch: 14 €; englische Ausgabe: 15,40 €
eBook: 12,99 €; englische Ausgabe: 6,49 €
Hörbuch: 17, 99 €; englische Ausgabe: 59,99 €
Zu einer Leseprobe – PDF fast 30 Seiten – bzw. ePub fast 80 Seiten – geht es hier bzw. da
Test „Wie braun bist du?“
(kommt auch im Stück bzw. im Programmheft zum Stück vor)
Zum Fragebogen geht es hier
Mehr Bücher von Mithu Sanyal, ihre Homepage funktioniert derzeit nicht