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Szenenfoto aus "Drei Winter" im Burgtheater
Szenenfoto aus "Drei Winter" im Burgtheater
24.04.2023

Beispielhafte, berührende (Familien-)Geschichtsstunden

„Drei Winter“ von Tena Štivičić in der Regie von Martin Kušej mit einem famosen Ensemble sowie heftiger Videos im Wiener Burgtheater.

(Fast) dreieinhalb dichte Stunden, gefühlsmäßig zwischen Atem stocken lassend und Schmunzeln bis zu herzhaftem Lachen – meist über machohaftes Gehabe – verweben auf der großen Burgtheaterbühne persönliche und gesellschaftlich-historische Geschichten Kroatiens – und darüber hinaus. Tena Štivičić hat „Drei Winter“ ursprünglich ausgehend von eigenen Familiengeschichten, später um viele andere Erfahrungen erweitert, an drei Wendepunkten ihres ersten Heimatlandes in Szenen gefasst: 1945 nach dem 2. Weltkrieg mit dem Aufbau des neuen, durch die Partisan:innen selbstbefreiten (sozialistischen) Jugoslawiens; 1990 als sich  das Auseinanderbrechen des multi-ethnischen Landes abzuzeichnen begann, manche sogar die drohenden künftigen kriegerischen Auseinandersetzungen bereits spürten/ ahnten sowie 2011 als die Beitrittsverhandlungen zur EU abgeschlossen worden sind. Treppenwitz: heute lebt die in Zagreb aufgewachsene Autorin, die 13 Jahre war, als der Krieg 1991 begann, in Großbritannien, das seit dem Brexit nicht mehr zur EU gehört, allerdings in Schottland, das nach Unabhängigkeit strebt.

Bogen bis heute

Das Stück beginnt im fast gespenstisch verdunkelten Saal nach Heben des Vorhangs mit Videos – Panzern, Schüssen. Und dem Insert Winter 2023 – bewegte Bilder aus dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine – womit der Regisseur, Burgtheaterdirektor Martin Kušej, gleich den Bogen des Stücks erweitert.

Eine Wohnung

Die folgende erste Szene spielt 1945: Die Partisanin Ruža Kralj (Nina Siewert, die in den 2011-er-Szenen auch ihre eigene Enkelin Alisa spielt) kommt ins Büro des Genossen Marinko (Daniel Jesch), um sich für eine Wohnung zu bewerben. Und sucht aus dem Berg von Schlüsseln jenen mit einer ihr bekannten, ja vertrauten Adresse aus. Es ist das Haus, aus dem ihre Mutter, ein Dienstmädchen der adeligen Besitzer:innen, mit dem eigenen Kind (also ihr selbst als Baby) auf die Straße gesetzt worden war. Mit ihrem kriegsverletzten, humpelnden Ehemann Aleksandar (Tilman Tuppy), ihrer Mutter Monika Vinter (Sylvie Rohrer) und dem kleinen Baby, das noch keinen Namen hat, ziehen sie ein. Und kommen drauf, dass in dem vermeintlich leeren Haus schon wer wohnt: Karolina Amruš, die Tochter der einstigen Eigentümer, deren Vater, ein Nazi-Kollaborateur war, der sich nach Argentinien abgesetzt hat. Barbara Petritsch wandelt fast wie ein Geist durch das Haus.

Ein Ort – viele Länder

Das Haus – und mit ihm die krass wechselnden Böden (je nach Epoche): Ein Zimmer voll mit Scherben bedeckt, ein anderes als recht dürres Feld, ein drittes mit einem flauschigem Feder-Teppich und ein anderes voller Papier-Schnipsel als wäre Vieles geschreddert worden (Bühne: Annette Murschetz) – wird über die gesamte Stückdauer fast zu so etwas wie einer Figur; einer Konstante in der wechselvollen Geschichte. Und zum fast skurrilen Sinnbild: Das Haus und die Stadt, natürlich immer geografisch am selben Ort, liegen über die Generationen in verschiedenen Ländern: Im Rückblick – Videos (Tobias Jonas) auch aus dem ersten Weltkrieg – noch Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie; danach Königreich Jugoslawien, ab 1945 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, ab 1991 Kroatien und schließlich mit dem Vorabend zum Mitglied der Europäischen Union (ab 2013).

Wende

1990 – der gemeinsam Vielvölkerstaat Jugoslawien fällt auseinander – im Stück werden Ereignisse des 14. Kongresses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens eingespielt, wo die slowenische Delegation die Tagung verlässt und die kroatische androht, ebenfalls zu gehen, sollte der Kongress fortgesetzt werden.

Während dies „nebenbei“ läuft, erleben wir die Familienzusammenkunft nach dem Tod Ružas. Das einstige Baby, das den Namen Mascha (Regina Fritsch) bekam, lebt mit ihrem Ehemann Vlado (Norman Hacker) – bzw. beide eher nebeneinander, dem Vater (Branko Samarovski) sowie ihren beiden pubertierenden Töchtern Alisa (Laura Diego Skladana, die in anderen Vorstellungen von Alina Foltyn bzw. Anna Sebök gespielt wird) und Lucija (Anouk Aimée Auer (alternierend: Chiara Bauer-Mitterlehner, Sofi Gavril) zusammen.

Ihre Schwester Dunja (Zeynep Buyraç) lebt und arbeitet in Düsseldorf – und unterstützt immer wieder die verarmte Familie in Zagreb. Angesichts der vielleicht drohenden Kriegsgefahr bietet sie sofort an, die Kinder zu sich in Sicherheit zu holen. Was ihr herrschsüchtiger Ehemann Karlo (Daniel Jesch) so gar nicht will. Der ist obendrein eifersüchtig auf einen langjährigen Freund der Familie, Igor Maljević (Maximilian Pulst, der auch den Jugendfreund Alisas und am Ende ausquartierten Mitbewohner Marko spielt), der zu den Begräbnisfeierlichkeiten ebenfalls angereist ist – aus dem bosnischen Sarajevo. Dieser Karlo, der den Kapitalismus anbetet, wie ihm seine Frau vorhält und sich mit einem ärztlichen Attest vor dem Militärdienst geschraubt hat, verkündet nun, für Kroatien militärisch kämpfen zu wollen, sollte es so weit kommen.

Hochzeit

Den dritten Zeitsprung – es wird nicht chronologisch gespielt, sondern immer wieder hin- und her-geswitcht – mit kurzen Inserts 1945/1990/2011 – verankert die Autorin erneut in einem Familientreffen. Anlass ist nun die bevorstehende Hochzeit Lucijas (Andrea Wenzl) mit Damjan, der nie in Erscheinung tritt. Gegen ihn besteht einige Skepsis, er ist ein Unternehmer, ein Neu-Reicher, der angeblich aus dubiosen Quellen sein Vermögen anhäufte und nun das Haus gekauft hat – samt Rausdrängen der anderen Altmieter:innen wie seine künftige Schwägerin, Lucijas Schwester Alisa (Nina Siewert), herausgefunden hat. Die lebt nun in London, ist nur zum Begräbnis der Großmutter angereist und hat sich gedanklich und emotional von der Familie ziemlich abgekoppelt.

Damjans Verhalten steht sinnbildlich für die Privatisierungen, den sich abzeichnenden Turbokapitalismus, der – so fürchten einige in der Familie – sich mit dem Beitritt zur EU verschärfen würde.

Wertewandel

Mit der Szene rund um den Hauskauf und den Rauswurf anderer Mieter:innen manifestiert sich der mit dem „Länderwechsel“ auch einhergehende Wandel von Wertesystemen. Wurde 1945 das Haus der Adeligen an arme Arbeiter:innen vergeben, so krallt sich nun ein Neureicher das Anwesen – und rettet es vor noch gierigeren Spekulant:innen, wie Lucija zu versichern meint.

Und hebt das Geschehen endgültig von der konkret erzählten wechselvollen Familien- und Hausgeschichte ins Allgemeine, in eine spannend geschriebene und gespielte Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse. Wobei die Autorin ihre Markierungspunkte sozusagen immer knapp vor den realen Ereignissen ansiedelt – in Phasen der Vorahnung – wie sehr oft sensible und genau hinschauende Künstler:innen die Entwicklungen aufkommen sehen. Auch wenn ihnen oft nicht geglaubt wird – siehe russischer Überfall auf die Ukraine, der neben der oben angesprochenen anfänglichen Einblendung nochmals in einem Video auftaucht, wo fast nahtlos von 1918 über 1945 und 1991 auf 2023 geswitcht wird.

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INFOS: WAS? WER? WANN? WO?

Drei Winter

von Tena Štivičić
Ca. 3 ½ Stunden (eine Pause nach ca. 2 Stunden)

Regie: Martin Kušej

2011
Alisa Kos (2011): Nina Siewert
Lucija Kos (2011), Alisas Schwester: Andrea Wenzl
Vlado Kos (2011 und 1990), Alisas und Lucijas Vater: Norman Hacker
Mascha Kos (2011 und 1990), Alisas und Lucijas Mutter: Regina Fritsch
Dunja Kralj (2011 und 1990), Maschas Schwester: Zeynep Buyraç
Marko Horvat (2011), Nachbar von oben: Maximilian Pulst

1990
Karlo Dolinar (1990), Dunjas Mann: Daniel Jesch
Karolina Amruš (1990 und 1945), ursprüngliche Besitzerin des Hauses der Kos: Barbara Petritsch
Igor Maljević (1990), ein Freund der Familie: Maximilian Pulst
Aleksandar Kralj (1990), Dunjas und Maschas Vater: Branko Samarovski
Alisa Kos (1990): Laura Diego Skladana (alternierend in anderen Vorstellungen: Alina Foltyn, Anna Sebök)
Lucija Kos (1990): Anouk Aimée Auer (alternierend in anderen Vorstellungen: Chiara Bauer-Mitterlehner, Sofi Gavril)
Marko Horvat (1990): Niklas Schrade (alternierend in anderen Vorstellungen: Johannes Brandweiner, Laurenz Haider)

1945
Ruža Kralj (1945), Maschas und Dunjas Mutter: Nina Siewert
Aleksandar Kralj (1945), ihr Mann, Dunjas und Maschas Vater: Tilman Tuppy
Monika Vinter (1945), Ružas Mutter: Sylvie Rohrer
Marinko (1945), kommunistischer Verwalter/Beamter: Daniel Jesch

Bühne: Annette Murschetz
Kostüme: Heide Kastler
Musik: Bert Wrede
Licht: Reinhard Traub
Video: Tobias Jonas
Dramaturgie: Jeroen Versteele

Regie-Assistenz: Julia Thym
Bühnenbild-Assistenz: Sarah Smets-Bouloc
Kostüm-Assistenz: Julia Seemayer
Regie-Hospitanz: Katharina Hochreiter
Bühnenbild-Hospitanz: Lüder Apel
Kostüm-Hospitanz: Anna Brock
Leitung Komparserie: Thelma Rán Guðbjargardóttir
Doubles: Brigitte Bichler, Martina Prosinger
Inspizienz: Gerald Stollwitzer
Soufflage: Evelin Stingl

Wann & wo?

Diese und nächste Spieltzeit
Ab 11. Mai gibt es auch eine Untertitelung auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch über eine Handy-App mit dunklem Hintergrund und weißer Schrift

Burgtheater: 1010, Universitätsring 2
Telefon: 01 51444 4545

burgtheater -> Drei Winter

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