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Montage aus drei Fotos dreier Figurentheaterstücke
Montage aus drei Fotos dreier Figurentheaterstücke
10.09.2021

Vom Chaos im Kinderzimmer, einem kleinen Fiesling und den großen Bösewichten

Drei ganz unterschiedliche Figurentheaterstücke am dritten Tag des Festivals Luaga & Losna 2021.

Ein Tisch samt Tischtuch. Darunter verbirgt sich eine geheimnisvolle Welt. Offenbar in chaotischem, unaufgeräumtem Zustand. Das legt der Titel des Figurentheaterstücks nahe: „Wie sieht’s denn hier aus?!“ Daneben wartet die Spielerin geduldig bis alle Besucher_innen im Nenzinger Ramschwagsaal Platz genommen haben. Die ersten Zuschauer:innen haben somit Zeit sich auszumalen, was da wohl alles unter dem Tischtuch verborgen sein könnte.

Figurentheaterspielerin Heidrun Warmuth mit Gegenständen aus ihrem Stück

Dann der Moment der Enthüllung. Das Gewurl könnte aus einem Kinderzimmer stammen. Tut es offensichtlich auch, wie Warmuth bei der abendlichen Nachbesprechung verrät. Berge von Zeugs aus den Zimmern ihrer älter gewordenen Kinder hat sie eingesammelt und zu den ersten Proben mitgenommen. Da hat sie mit Regisseur Tristan Vogt geareitet, der schon mehrmals bei „Luaga & Losna“ (schauen und hören), dem Theaterfestival für junges Publikum in Vorarlberg selbst gastierte.

Figurentheaterspielerin Heidrun Warmuth mit Gegenständen aus ihrem Stück

Die Spielerin lässt kurz den Vater zu Wort kommen mit dem Ausruf der auch zum Stücktitel wurde. Also aufräumen, Ordnung machen – müssen. Es ist ja ein sehr eigenartiges Phänomen: Kinder versinken in ihrem Spiel, richten scheinbares Chaos an, finden sich in diesem sehr wohl zurecht. Eltern drängen ständig auf Aufräumen, was die allermeisten Kinder so gar nicht mögen. Kaum sind sie aber Eltern, fordern sie von ihren Kindern „aufräumen!“ ein.

Figurentheaterspielerin Heidrun Warmuth mit Gegenständen aus ihrem Stück

Wie auch immer, Heidrun Warmuth wird zum Kind, das nun Ordnung ins Chaos bringen will. Sie sortiert die Sachen. Doch jedes System, das sie sich ausdenkt, funktioniert nicht so ganz. Bei bunt oder schwarz, passt eine kleine Wäschekluppe in keine der beiden abgegrenzten Zonen. Das gilt für jedes, das sie sich neu ausdenkt. Und stets erweckt die Spielerin das eine oder andere Ding zum Leben. Ob es der einsame Socken ist, der sich beschwert, so lange vergessen worden zu sein bis er zur Sockenpuppe wurde, ein Stoffkrokodil, eine Holzkuh, eine Aufzieh-Schwimmerin oder was auch immer. Berge und Inseln entstehen, eine Stoff-Klappbox wird zu einer Art Gefängnis, die Tischlade zur Nachdenk-Ecke. In Nullkomma nix erwischt Warmuth nicht nur ganz junge Zuschauer:innen, die herzhaft lachen, sondern auch skeptische Erwachsene, die sich auf dieses Spiel voller Überraschungen und Wendungen einlassen. Und darin auch Philosopischeres entdecken – von Fragen der Zugehörigkeit, dass alle srikten Abgrenzungen gar nicht funktionieren bis zum Loslassen können und nicht hamstern müssen. Denn der Stein oder Ast will in den Wald zurück. Wo sie aber wiederum neues sammeln kann …

Figur aus

Ein kleiner Fiesling …

Sven Stäcker, Impressario von Theater Trauminsel – Puppentheater Korneuburg, trat am dritten Festivaltag gleich zwei Mal auf. Mit einem Stück schon für jüngere Kinder (ab 4 Jahren) sowie einem ab 12 und Erwachsene. Beiden gemeinsam: Eigene, nicht immer gerade klassisch „schöne“ Puppen und Figuren, spontanes witziges Reagieren Stäckers auf „Zwischenfälle“ im Publikum wie ein Handyläuten usw. UND an diesem Tag, aber durchaus auch in anderen Stücken, lustvolles Spiel rund um Bitterböses von und in Menschen.

„Der kleine Häwelmann“ basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Theodor Storm, der sie angeblich als Gute-Nacht-Geschichte für seinen Sohn geschrieben hat. In der Tradition von Max & Moritz oder Struwwelpeter ein Stück schwarze Pädagogik schlechthin. Gebrochen aber durch das süffisante Puppenspiel. Grundgeschichte: Der kleine Häwelmann, ein Wort, das angeblich von verhätscheln kommt, will in seinem Puppenwagen/Rollbett ständig hin und her geschoben werden. Was den Opa ziemlich nervt. Kaum verschnauft er, weil der Kleine endlich schläft, ruft der schon wieder zur Schiebe-Aktion. Im Lauf der Geschichte trifft er auf Mond, Wetterhahn, Katze im Wald und Sonne. Keine/n lässt er schlafen, zu allen ist er super fies bis hin zu deren Vernichtung, weil sie nicht das machen, was er will. „Der ist so gemein!“ sagt ein kleines Mädchen in der Publikumsreihe vor dem Journalisten. Und dennoch stimmt auch sie am Ende in den Chor jener ein, die für die Rettung der Hauptfigur sind, als diese ins Meer fällt. Storm lässt ihn ertrinken, Stäcker lässt ihn überleben – und so nebenbei auf schräge Meer-Schweine treffen.

Szene aus

… die große Menschenvernichtung

Um das Böse schlechthin baute er dann – in dem Fall unterstützt durch eine Regisseurin (Ulrike Melnik) und einen Live-Musiker auf der Bühne (Stephan Rausch mit mehreren Mundharmonikas) das Stück mit dem schon schrägen Titel „Das Leben ist wie ein Fisch an der Wand“ über Tod, systematische Massenvernichtung der Nazis und Antisemitismus bis Judenhass auch über diese Ära hinaus. Stäcker, dessen Idee das Stück war, baut es auf übersetzten Gedichten von Rajzel Zychlinski auf, die „in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts eine herausragende Stellung einnimmt“, wie es im Programmzettel heißt. Die Autorin wurde in Polen geboren (1910), lebte später in Russland, Frankreich und den USA, wo sie 2001 in Kalifornien starb.

Schon das Bühnen-Ambiente bietet dazu viele große und kleinere Assoziationen – von einigen alten Koffern, einer mit Zeitungspapier beklebt, womit der entsprechende Anteil von Medien subtil und doch offensichtlich mittransportiert wird, bis zu einem Rauchfang.

Die ersten Figuren – neben dem Musiker und dem Figurenspieler mit Hut und weitem, schwarzen Mantel: Zwei Schmetterlinge, der eine ein brauner Falter mit Symbolen auf den Flügeln, die sofort an Hakenkreuze erinnern; der andere ein gelber Schmetterling. Der Braune herrscht schon den Musiker an und verlangt vom Gelben ein Rätsel, um besänftigt zu werden. „Was ist blau, hängt an der Wand und pfeift?“

Szene aus

Natürlich kommt der Nazi-Falter ebenso wenig drauf wie auch nur irgendwer im Publikum. Die Auflösung „mein Hering“ lässt alle nur noch ratloser zurück, selbst als der gelbe Schmetterling erklärt, weshalb solle er nicht ein Hering blau anmalen…“ ein wenig erinnert dieses und auch ein späteres ähnlich gelagertes Rätsel, das auch dem Stück den Titel gab, an das Gedankenspiel: „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld.“ – „Warum die Radfahrer?“ – „Warum die Juden?!“

Jedenfalls dreht sich die starke, zwischen Bedrückung, Lachen und dessen im Hals-Steckenbleiben zentral um den Tod. Der – in drei Varianten – als teils glitzernde Puppe in Erscheinung tritt – gleichzeitig auch eine Art Conférencier des als Variete-Show in Kriegszeiten angelegten Abends. Immer und immer wieder muss er Menschen abholen – eh schon wissen warum in Zeiten von Massenvernichtung. Er mag schon nicht mehr. Freundet sich mit den Opfern an, erträgt seinen Job fast nur mehr, indem er sich Witze erzählen lässt oder solche zum Besten gibt.

Szene aus

Wo der Tod liebenswürdiger ist als …

Zwar nicht gegenüber dem Tod, sondern einem Nazi-Uniformiertem KZ-Wärter gegenüber reagiert ein Opfer mit einem der bekannteren jüdischen Witze. Der Herr über Leben und Tod verspricht dem „Juden“ die Freiheit zu geben, wenn er errät, welches seiner beiden Augen aus Glas ist. „Das Linke ist Ihr Glasauge!“ – „Wieso hast du das so schnell erkannt“ – „Es schaut so gütig!“ Es gibt ihn auch mit der Version „so menschlich“, „freundlich“ usw.

Sogar ein kleines Mädchen, das eine Zwiebel gestohlen hat, wird zum Tod verurteilt, weil es sich „am Volksvermögen vergriffen“ hat. Da schickt der Tod sein Alter Ego mit roter Nase und Clownmaske.

Neben den Opfern ist der Tod die liebenswürdigste, menschliche Gestalt. Wenn der Tod besser zu ertragen ist als das Leben unter Ausgrenzung, Verfolgung, Vernichtung …

Szene aus

Und ist mit dem Ende des Faschismus in der Form des Nationalsozialismus nicht zu Ende. Der Tod will endlich selber sterben. Da könnt er sich doch einen gelben Judenstern an die Brust heften und auf den Hauptplatz der jeweiligen Stadt stellen, in der Theater Trauminsel mit dem Stück gastiert. Und lässt die Zuschauer:innen kurz oder auch lang tief verschnaufen. „Uff!“ Das ist doch so manch Wahres dran.

Mitzittern

Einen solchen – seeeehr laaaaaangen – Moment schafft Stäcker schon zuvor mit der vielfach wiederholten, langweilig werdenden Ankündigung des Auftritts des einzigen jüdischen Seiltänzers. Schon das Holen von jeweils zwei Zuschauer:innen, m das Seil dafür auf der Bühne zu halten, macht dieses zu „Kompliz:innen“. Als die Figur des Tänzers dann voll vor Angst bibbernd auf dem Seil über dem Abgrund steht, fragt Sven Stäcker das Publikum, ob der Seiltänzer sich der Gefahr des Absturzes aussetzen solle…

Praktisch die ganze Stunde begleitet der Mundharmonikaspieler live mit mehreren seiner Instrumente und verbreitete eine Atmosphäre von Klezmer-Klang. Ein starkes, sehr berührendes Stück, dem es aber – kleine kritische Anmerkung – nicht schaden würde, bei der Fülle an erzählten Witzen wenigstens einige der frauenfeindlichen auszulassen.

Follow@kiJuKUheinz

Compliance-Hinweis: Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … wurde vom Festival Luaga & Losna eingeladen.

INFOS: WAS? WER?

Wie sieht’s denn hier aus?

von Heidrun Warmuth und Tristan Vogt (Deutschland)
Ab 4 Jahren
Regie: Tristan Vogt
Spiel: Heidrun Warmuth

heidrunwarmuth.de

Der kleine Häwelmann

von Sven Stäcker nach Theodor Storm
Theater Trauminsel (Österrreich)
Ab 4 Jahren
Puppen/Regie/Spiel: Sven Stäcker
Musik: Zuschauerkinder

Das Leben ist wie ein Fisch an der Wand

von Sven Stäcker nach Raizel Zychlinski
Theater Trauminsel (Österreich)
Ab 12 Jahren
Regie: Ulrike Melnik, Sven Stäcker
Puppen/Spiel: Sven Stäcker
Livemusik: Stephan Rausch
Bühnenteile: Ulrike Melnik

trauminsel.org