Sehr körperliche, tänzerische Inszenierung der „Heimkehr“ des „Helden“ – im TAG (Theater an der Gumpendorfer Straße, Wien).
Tick, tack, tick, tack… in unterschiedlicher Geschwindigkeit ticken 21 Metronome auf der Bühne, einem weißen Tanzboden im TAG (Theater an der Gumpendorfer Straße, Wien). Zu verschiedenen Zeitpunkten stellen die vor allem in der Musik verwendeten Geräte ihre jeweils exakte Tempovorgabe ein. Sozusagen hören die Herzen der Mitstreiter zu schlagen auf. Sind 20 in ein Regal im Hintergrund eingeräumt, bleibt ein einziges über. Dem stülpen die Schauspieler:innen eine schwarze, kleine Hundehütte über. Odysseus hat nach 20 Jahren Ithaka erreicht. Doch, ist er angekommen? „Heimkehr heißt nicht ankommen!“, heißt es im ersten Viertel des Stücks an einer Stelle.
Seit mehr als 2500 Jahren gilt er meist als DER Held schlechthin. Dieser Mythos wurde immer wieder in unterschiedlichsten (Theater-)Versionen hinterfragt. Ob vor zwei Jahren als Irrfahrt durch Texte, Zeiten und zu sich selbst in der „Odyssee 2021“ nicht zuletzt auch durch weibliche Sichtweisen in einem Stationenstück rund um und im nahegelegenen Theater Arche. Oder schon vor mehr als zehn Jahren in einer Kinderversion, in der der „Held“ eigentlich gar nicht wegziehen, sondern lieber seinen Sohn Telemachos beim Aufwachsen zu Hause begleiten wollte. Der Titel dieser Version, die seither immer wieder gespielt wird, „Odysseus am Sand“ könnte in einem übertragenen Sinn mit einem „total“ davor auch für die sehr berührende, bewegte und bewegende heftige Dekonstruktion im TAG gelten: „Odyssee – eine Heimkehr“, frei nach Homer von Joachim Schloemer. Diagnose: Posttraumatische Belastungs-Störung. Und es verwundert, dass dies bisher kaum ein inhaltlicher Ansatz war.
In einem mehrminütigen Abschnitt in der vorletzten Szene – sehr dunkel, bedrohliche Stimmung (Licht: Katja Thürriegl) – schwarzer durscheinender Vorhang – kommen Fragen als Schrifteinblendungen an einen führenden Soldaten aus dem 21. Jahrhundert. Echte Aussagen aus dem Off. Nach mehr als 20 Jahren diverser Auslandseinsätze findet er sich zu Hause nicht mehr zurecht, fühlt sich selbst in alltäglichen Situationen etwa im Supermarkt wie im Krieg. Da macht’s wohl klick in jedem Kopf, sozusagen ach ja, nachvollziehbar, vielleicht sogar eh kloar.
Die Stunde davor lässt diese sehr, sehr körperliche Inszenierung mit ziemlich wenig Text diesen zerstörten Odysseus spürbar – und doch aufgrund der Kunstform distanziert bzw. reflektiert – erleben. Anfangs einige vielmals wiederholte zusammenfassende Sätze zur Rückkehr von Odysseus nach Ithaka, wo Frau Penelope, Kind Telemachos, Hund Argos, Amme und Haushälterin Eurykleia sowie Schweinehirt Eumaios zurückblieben. Sie alle kommen – abwechselnd – durch die Münder von Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Lisa Schrammel und Georg Schubert zu Wort.
Noch mehr als die Worte sind es die ruhelosen, zwar genau choreografierten, aber fast wie Irrwege anmutenden Gänge – einzeln oder in formierter Gruppe – über den Tanzboden. Im (über einen Knopf im Ohr) vorgegebenen Takten. Tänzerisch – oft fast in Zeitlupe, dann wieder am Stand rennend – bewegen sich die fünf, die an sich aus dem Sprechtheater kommen, mal einzeln, dann synchron im Team über den weißen Tanzboden vor weißer Hintergrundwand; letztere mit einem spiegelnden Streifen im untersten Abschnitt. Sie irren nicht umher und vermitteln dennoch eine Irrfahrt. Nein, nicht die abenteuerliche „heldenhafte“, sondern die seelisch zerrüttete nach der Heimkehr und die Reaktionen der genannten anderen, die durch diese Ankunft auch aus dem (seelischen) Gleichgewicht geworfen werden.
Trotz der Gleichmäßigkeit – irgendwie rastlos, unausgeglichen. Nicht zurechtfindend. Suchend. Odysseus selbst danach, sich zurechtfinden zu wollen – im Verhältnis zu den anderen und die anderen zu ihm. Wer ist dieser fremd gewordene, verwahrloste, stinkende Mann?
In einer letzten Szene sitzen und liegen alle wie in einem gläsernen Sarg unter dem weißen Teil der Rückwand – mit teils skurrilen Dialogen, beginnend von der Gefühlslage einer Tasse, „bemalt, aus feinem Porzellan“ und der Frage: „Und jetzt mal unter uns. War dieses Drama nötig? Wie lang ist das schon her ist? Keine Ahnung. Tassen zählen keine Jahre. Wir warten nur gebraucht zu werden…“
Womit dem Drama, und damit vielleicht auch dem Ausziehen zu Kriegen und „Abenteuern“ eine einigermaßen absurde Note verliehen wird.
Frei nach Homer von Joachim Schloemer
1 ¼ dichte Stunden
Regie Joachim Schloemer
Es spielen: Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Lisa Schrammel, Georg Schubert
Text und Regie: Joachim Schloemer
Ausstattung: Anne-Sophie Raemy
Musik: Tom Schneider
Dramaturgie: Isabelle Uhl
Licht: Katja Thürriegl
Ton/Video: Peter Hirsch
Bühnentechnik: Manuel Sandheim, Andreas Wiesbauer
Regieassistenz: Renate Vavera
Kostümbetreuung: Daniela Zivic
Bis 22. Dezember 2023
19., 20. Jänner 2024
12., 13. Februar 2024
Das TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße 67
Telefon: 01 586 52 22
dastag -> odyssee