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Siegerin 2021: Anna Bauer
Siegerin 2021: Anna Bauer
27.11.2021

Wurzeln so groß, Wurzeln so tief…

Auszüge aus dem Text von Anna Bauer, mit dem sie den Bewerb für junge Literatur, texte.wien 2021 gewonnen hat.

Nicht alle Dörfer sind gleich.
In unserem Dorf wachsen einem Wurzeln,
wenn man nur lange genug hierbleibt.
Wer einmal Wurzeln geschlagen hat,
der wir nie wieder weggehen.
So erzählen sie zumindest,
die alten Leute und die Jungen auch.

Siegerin 2021: Anna Bauer
Siegerin 2021: Anna Bauer

I: Es ist Abend. Es ist einer der seltenen Abenden, an denen wir gemeinsam essen. Mama, Papa und ich. Mama isst meist irgendwo, bevor sie nachhause kommt. Fast Food. Belegte Weckerl. Restaurantmenü. Papa isst meist nirgendwo, bevor er nachhause kommt. Kein Hunger. Kein Durst. Kein knurrender Magen. Ich esse meist anderswo, wenn ich darauf warte, dass Mama und Papa nachhause kommen. In meinem Zimmer. …

Unser Dorf besteht aus Leben,
die aus ihren Plänen gelaufen sind.
Wir haben noch Zeit wegzugehen, haben sie alle gesagt.
Wir haben noch ein Leben vor uns, haben sie alle gedacht.
Das war, bevor sie Wurzeln geschlagen haben.
Das mit dem Festwachsen war viel schneller gegangen,
als je einer von ihnen geahnt hatte.
Kind und Kegel. Schuld und Schulden.
Trauer und Tote. Wurzeln und wachsen.
Unser Dorf ist durchdrungen von Träumen,
die als Wurzeln im Erdboden verschwunden sind.

Siegerin 2021: Anna Bauer
Siegerin 2021: Anna Bauer

II: Mama hat mich in die Trafik geschickt. Zwei Lottoscheine soll ich kaufen. Einen mit Joker. Einen ohne Joker. Meine Eltern haben schon lange, gelernt, dass sie kein Glück haben. Und trotzdem hoffen sie noch immer. Mama hasst die Trafik. Sie ist deswegen nicht hier. Ich hasse die Trafik. Ich bin trotzdem hier. Manchmal, so glaube ich, sieht Mama meine Gefühle nicht, weil sie es nicht ertragen kann zu wissen, dass ich fühle, was sie fühlt. In der Trafik riecht es nach Zigarettenrauch und Druckertinte. Außer mir sind keine Kunde da. Die Trafikantin schaut mich trotzdem nicht an. Ich hole Luft und vergrabe meine Fingernägel in meinen Handflächen. Später werde ich eingedrückte Halbmonde auf meiner Haut zählen können. Zwei Lottoscheine, brülle ich der Trafikantin entgegen. Einen mit Joker. Einen ohne. Die Trafikantin ist eine mittelalte Frau. Sie lächelt lieb, wenn sie einen guten Tag hatte. Früher mochte ich sie. Die Trafikantin ist nicht schwerhörig. Ich schreie, weil: sie nichts gehört habe damals, nie. Keine Schreie aus dem Nachbarhaus. Keine Rufe. Keinen Lärm. Ich schreie, weil: sie habe sich nicht einmischen wollen. Junge Liebe sei eben so. Laut und feurig und wild. Mit Tränen und Streit. Ich schreie weil: alles anders ausgehen hätte können. Die Trafikantin schiebt mir wortlos zwei Lottoscheine entgegen. Als ich sie später anschaue, fällt mir auf, dass beide mit Joker sind. Gezahlt habe ich nur für einen. Als ob die Trafikantin mit der Chance auf ein bisschen Glück alles gut machen könne.

In meiner Familie haben alle große Pläne gehabt.
Das war bevor ihnen Wurzeln gewachsen sind.
Sie sind in diesem Dorf aufgewachsen.
Sie sind mit diesem Dorf verwachsen.
Aber wenigstens du, haben sie alle zu meiner Schwester gesagt,
aber wenigstens du wirst die Welt sehen.
Die Träume meiner Familie lasten nun auf meinen Schultern.

Meine Schwester wollte gerade weggehen
– in die große Stadt, in die weite Welt –
als die Liebe um die Ecke bog und sie festhielt.
Seine Augen so treu. Sein Herz so weich. Seine Hände so sanft.
Die Liebe blieb nicht lange, meine Schwester schon.
Im Dorf. Bei ihm.
Sie hatte an einer Stelle Wurzeln geschlagen,
an der die Erde rau und hart war
und die Wurzeln tief graben mussten,
um an Wasser zu gelangen, um an Nährstoffe zu gelangen.
Meine Schwester war ein Baum geworden,
der leicht gefällt werden konnte.

Siegerin 2021: Anna Bauer

Meine Schwester und ich lernten,
dass Streit zu der Liebe dazugehört.
Vielleicht fiel es ihr deswegen so lange nicht auf,
dass bei ihm gar keine Liebe dabei war.

VI: Es ist Mittwoch, als ich ausnahmsweise zu früh in der Schule bin. Meine Sitznachbarin hat nicht damit gerechnet. Sie schiebt die Zeitung schnell unter ihr Heft. Die Überschrift habe ich trotzdem noch gesehen. Beziehungsdrama steht darauf. Meine Sitznachbarin liest morgens gerne die Gratisblätter, die es am Bahnhof gibt. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute früher kommst, sagt sie, dann. Ich hole tief Luft. Schon okay, seufze ich. Ich lese jede Woche neue Namen. Meine Schwester war eine von ihnen. Ich weiß nicht, was mehr wehtut. Dass sie eine davon war. Oder dass nach ihr noch welche waren. Es ist nicht deine Schuld, sagt meine Sitznachbarin. Sie ist gut darin Floskeln an der richtigen Stelle zu verwenden. Es hilft mir trotzdem nicht.

Die Nachrichten wussten vor uns was passiert war.
Leiche in Wald gefunden. Freund geständig.
Beziehungsstreit. Eifersucht.
Als die Polizei bei uns klingelte, weinten wir bereits.
Es war die Schuld, die uns niederdrückte.

Zum kompletten Text de Siegerin geht es hier