„Über Nacht“: Super junges, spielfreudiges Trio in einem ironisch-ernsten Stück über (Kinder-)Armut im Burgtheater-Vestibül.
Eine (Alb-)traumhafte Geschichte rennt – schon vom Stücktext, aber noch viel mehr in der spielfreudigen, lebendigen, oft schrägen Inszenierung – auf der kleinen Bühne des Vestibüls im Wiener Burgtheater ab. In knapp eineinhalb Stunden erlebt das Publikum in „Über Nacht“ die österreichische Erstaufführung eines trotz des zugrundeliegenden traurigen Ernstes der Lage das sehr oft witzige Stück zwischen Traum und Wirklichkeit, geschrieben von Lucien Haug, Regie: Rachel Müller.
Die Grundgeschichte: Die 16-jährige Sam(ira) fälscht ihr Zeugnis – auf schlechte Noten. Nicht weil sie verhindern will, als Streberin dazustehen, alle in der Schule kennen ihre Schläue. Sie will nicht weiter in die Schule gehen, um später zu studieren, sondern eine Berufslehre machen. Da kann sie schon Geld verdienen, während der andere weitere Bildungsweg Geld kosten würde – was ihre Mutter nicht hat, der Vater, der abgehaut ist, zahlt auch keinen Unterhalt.
Nach „Wutschweiger“, das auch im Vestibül gespielt, aber auch in anderen Versionen im Grazer TaO! sowie auf der Studiobühne des Linzer Landestheaters zu sehen ist, ein weiteres Jugendstück, das spannend-subtil, empathisch und jugendgerecht Armut auf Bühnen thematisiert.
Der materielle Hintergrund, ja selbst die Sache mit dem gefälschten Zeugnis, kommt so „nebenbei“ an die Oberfläche, jedenfalls steht er nur in ganz wenigen Szenen im Vordergrund. In diesem spielen sich eher fantasievoll verwoben alltägliche Geschichten Pubertierender ab. Aus Schüchternheit den Auftritt zur Rede vor der versammelten Schulbelegschaft verpassen, sich nicht trauen, einem Jungen anzudeuten, dass sie ihn mag, von anderen herumkommandiert werden und beginnen sich zur Wehr zu setzen… All diese und noch viel mehr unterschiedlichste Emotionen verkörpert Mara Romei sehr überzeugend, oft „nur“ durch Blicke.
Ihre Freund:innen, dann wieder Gegener:innen und alle anderen Figuren werden von Coco Brell (Mitschülerin, Lehrer, Papa, Oma, Sextraum und Morphi) bzw. Simon Schofeld (Mitschüler Ezra / Stef, Sams Bruder / Beziehungstraum/ Phanti) gespielt. Einmal ist’s eine übergeworfene Jacke, ein anders Mal ausschließlich eine andere Körperhaltung, wechselnde Sprachfärbung. Trotz der vielen Figurenwechsel und wenigen äußerlich anderen Merkmale schaffen sie es, dass fast immer klar ist, wen sie gerade verkörpern.
Alle drei sind übrigens noch Schauspiel-Student:innen – am Max Reinhardt Seminar, wie es oft in Produktionen des Burgtheater-Studios der Fall ist.
Viele der Wortwitze im Stücktext kommen mit dem Spielwitz des jungen Trios so richtig zur Geltung, verkommen aber nie zur Blödelei, eher machen sie den Ernst der Lage von Samiras Familie A) deutlich und B) für sie erträglich und C) strahlt sie die Kraft aus, es trotz der widrigen Umstände wahrscheinlich da raus zu schaffen. Und D) werden so manch gut gemeinte, doch oft zur hohlen Phrase verkommene Sprüche zerlegt – hier vor allem der auf das große Stoffbanner geschriebene: „Lebe deine Dreams“.
Den durchgängigen Grundhumor unterstreichen die Requisiten (Bühne: Lara Scherpinski
Kostüme: Marie-Lena Poindl): praktisch alles – ob Möbel, Zeugnis oder was auch immer – sind geometrische Schaumstoff-Körper, überdimensionierte Bausteine aus Kinderzimmern. Nicht zu vergessen Musik von Bernhard Eder (Ton: Andreas Zohner) – immerhin geht’s u.a. um die Gründung einer Band mit sarkastischen Titel „Low life rich kids“ (niedriges/billiges Leben reiche Kinder) -, sowie Lichtspiele (Enrico Zych).
Galoppierende Inflation, eine Teuerung, die bei Lebensmittel, Mieten und Kosten für Energie noch über die allgemeine Preissteigerung hinaus ausfallen: Immer mehr Menschen, die drohen in Armut abzurutschen, mittlerweile sind an die 400.000 Kinder und Jugendliche (bis 18 Jahre) in Österreich von Armut bedroht oder leben in solcher.
Die Volkshilfe Österreich, die sich federführend für eine „Kindergrundsicherung“ einsetzt, zitiert Zahlen von Statistik Austria & Eurostat Statistics 2023 (bis 18 Jahre). Demnach sind „ein Viertel aller armutsgefährdeten Menschen in Österreich Kinder und Jugendliche. … Über 353.000 Kinder leiden darunter. … Das ist jedes 5. Kind“ und dann wird diese globale Zahl noch aufgeschlüsselt, u.a. leben „278.000 Kinder in Haushalten, die es sich nicht leisten können, auf Urlaub zu fahren; 175.000 Kinder müssen in feuchten oder schimmligen Wohnungen leben… 103.000 Kinder können sich eine Teilnahme an mit Kosten verbundenen Freizeitaktivitäten nicht leisten.“ (Quelle: Kinderarmut-abschaffen)
von Lucien Haug
ca. 1 ½ Stunden; ab 14 Jahren
Regie: Rachel Müller
Sam(ira): Mara Romei
Mitschülerin/ Lehrer/ Papa/ Oma/ Morphi/ Sextraum: Coco Brell
Mitschüler Ezra / Stef, Sams Bruder/ Phanti/ Beziehungstraum: Simon Schofeld
Bühne: Lara Scherpinski
Kostüme: Marie-Lena Poindl
Musik: Bernhard Eder
Licht: Enrico Zych
Ton: Andreas Zohner
Dramaturgie: Jeroen Versteele
Regie-Assistenz: Sara Abci
Kostüm-Hospitanz: Luise Nehl
Inspizienz: Bianca Eibensteiner
Soufflage: Yasmine Steyrleithner
Bühnentechnik: Manfred Widmann
Requisite: Christian Kraus
22. und 26. Mai 2023
Vestibül im Burgtheater: 1010, Universitätsring 2
Telefon: 01 51444 4545
burgtheater -> Über-nacht
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